Das Turmzimmer
herumgescheucht. Ich hörte jeden einzelnen Laut: Laurits’ Schlüssel, die in der Tür zum Turmzimmer rasselten, das lang gezogene Knarren, als sie aufglitt. Ich wartete nur darauf, dass sie zuknallte, doch das tat sie nicht. Ich stand auf.«
»Ja?«
Nella sah an mir vorbei. Einen Augenblick glaubte ich, ein Schatten tanze über den Boden, doch es war nur ihr Fuß, der auf und ab wippte.
»Ja, ich stand auf. Es war Sommer, deshalb war ich sehr dünn angezogen. Ein weißes Batistnachthemd und sonst nichts. Es wickelte sich ab und zu um meine Beine, als ich den Gang hinunter- und die Treppe hinaufschlich, an deren Ende ich Licht sah. Einen goldenen Schimmer, der auf die gewölbte Wand fiel. Das restliche Zimmer war stockdunkel, und der klagende Laut war wieder da. Er kam von überall, wie es den Anschein hatte, und plötzlich hörte ich die Tür hinter mir zuknallen.«
Nellas Augen wurden ganz schmal. Ich hätte viel darum gegeben, in diesem Moment das Gleiche sehen zu können wie sie.
»Auf der Wand, der angestrahlten, sah ich Schatten, die ineinanderflossen. Einer schien auf einer Art Bett zu liegen. Später habe ich gedacht, dass das wohl die alte Chaiselongue gewesen sein muss, und mit etwas gutem Willen konnte der eine Schatten Laurits sein, die sich darüberbeugte. Doch ich bin mir bei Weitem nicht sicher. Der Schatten verwischte wie ein Tintenklecks, und plötzlich sah ich nichts mehr.«
Nella zog die Beine unter sich.
»Jemand hielt mir die Augen zu und zerrte mich hinaus, sodass ich stolperte und Splitter in die Füße bekam. Der klagende Laut wurde von einem leisen Sausen abgelöst. Irgendjemand rief auf eine wirklich seltsame Weise nach mir: ›Nella? Bist du das? Komm zurück! Nella? Komm her!‹ Ich hörte mich einen kläglichen Laut ausstoßen, bevor ich den Schmerz spürte. Direkt aus meinem Pony war mir ein großes Büschel Haare gerissen worden, doch das stellte ich erst später fest, als ich mich im Spiegel sah. In der Situation selbst war ich mir sicher, sterben zu müssen. Doch dann hörte ich, wie Mutter mir etwas ins Ohr flüsterte. Sie wollte wissen, ob ich wach war und was ich gesehen hatte. Den ganzen Weg die Treppe und in mein Zimmer hinunter antwortete ich nichts . Sie ließ mich erst los, als ich lag, wo ich die ganze Zeit hätte liegen sollen, und erst zu spät begriff ich, dass … oh, es ist so schwer, davon zu reden …«
Schnell reichte ich Nella mein Taschentuch, und sie vergrub eine Weile das Gesicht darin, trocknete sich die Augen und knüllte es in der Hand zusammen.
»Mutter hatte ein Kissen in der Hand. Viel zu nah an meinem Mund. ›Wenn du etwas gesehen hast, musst du mir das jetzt sagen‹, verlangte sie. Ich tat, als würde ich schlafen, mit weit offenen Augen, wie damals, als ich noch schlafwandelte. Mutters Parfüm kam mir süßer vor als sonst. Du kennst ja den Duft. Und als sie sich über mich beugte, wurde er noch intensiver. Ich starrte das Kissen an und wartete nur darauf, dass es mein Gesicht ganz bedecken würde, doch mehr passierte nicht.«
»Sie ist gegangen?«
»Ja, sie ist nach unten gegangen, und kurz darauf ist Laurits aus dem Zimmer oben gekommen, wie sie das immer tat. Ihre Schritte waren noch langsamer als zuvor, und ich wiederholte immer wieder, dass ich nichts gesehen hatte, obwohl ich das ja hatte. Doch es waren nur Schatten gewesen, und die zählten nicht. Laurits sah mich am nächsten Tag seltsam an, das weiß ich noch, und ich wünschte, sie hätte nach dem kahlen Fleck gefragt, da er sehr schmerzte. Aber sie frisierte mich nur so, dass man ihn nicht sah. Ich fühlte mich furchtbar allein. Schließlich sah ich ein, dass es auf Liljenholm Gefahren gab, vor denen nicht einmal Laurits mich beschützen konnte.«
Ich denke, ich kann verraten, dass Nella absolut recht hatte. Es gibt Gefahren auf Liljenholm, und an Antonias Sterbebett waren sie darüber hinaus zahlreicher denn je. Das war mir völlig klar, als Nella die Geschichte zu Ende erzählt hatte. Der nächste Morgen war hereingebrochen, und ich fühlte mich in keinster Weise zuversichtlich, als Nella ihren Koffer packte und mit emsigen Fingern ihren Mantel zuknöpfte. In meinem Kopf drehten sich die Sätze im Kreis: Ich wage es einfach nicht, hier zu sein und deine Erlebnisse an Antonias Sterbebett aufzuschreiben, während du nicht da bist! Das ist viel, viel zu real, verstehst du? Doch ich griff nur nach ihrem Koffer, trug ihn in die Halle hinunter und bat um nähere Informationen, wann
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