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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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ich sie wiedersehen würde.
    »Oh, ich bleibe nicht lange weg«, sagte sie leichthin. Ihre Augen waren rot vor Müdigkeit. »Höchstens zwei Wochen, dann bin ich wieder da.«
    »Versprichst du es?«
    Als Antwort gab sie mir einen Kuss, und ich hätte sie und nicht mich fragen sollen, ob das ein Ja oder ein Nein war.
    Die Vase mit den Weidenkätzchenzweigen, den roten Vogelbeeren und den inzwischen abgestorbenen Johanniskrautzweigen steht noch immer mitten auf meinem Schreibtisch und hat mehr und mehr Ähnlichkeit mit einer verwirrten Vogelscheuche. Sehr passend, dachte ich, wenn ich mich ein seltenes Mal im Spiegel ansah. Dann biss ich die Zähne zusammen und schrieb an all den Seiten weiter, die Sie bis jetzt gelesen haben. Es sind mehr Seiten, als ich jemals an einem Stück geschrieben habe, und inzwischen hat Liljenholm sich mit meiner Gegenwart angefreundet und Ruhe gegeben. Doch an den meisten Tagen bin ich viele Male unterbrochen worden, und die erste Woche, nachdem Nella abgereist war, wurde ich nahezu dauernd gestört. Ich bin ohne jeden Anlass zusammengezuckt, wenn eine Tür zuknallte oder über meinem Kopf etwas knarrte oder der Wind draußen drehte und den Schnee direkt gegen mein Fenster trieb. Nellas Worte gingen mir dann durch den Kopf. Ungeachtet, was du hörst und siehst und wahrnimmst, tu, als ob nichts geschehen sei. Das ist zu deinem eigenen Besten.
    Allmählich sind die Worte in mir zur Ruhe gekommen. Ich zucke noch immer zusammen, wenn das ganze Haus ächzt, als hätte es zu lange in ein und derselben Position gestanden. Auch das unverkennbare Gefühl, nicht willkommen zu sein und spöttisch beäugt zu werden, hat sich noch immer nicht ganz gelegt. Und ich war alles andere als ruhig an jenem Abend, an dem ich meine Bettdecke zur Seite schlug und einen Brieföffner mit einem silbernen Griff entdeckte, der am Morgen ganz sicher noch nicht dort gelegen hatte. Doch ich versuchte, so zu tun, als ob nichts geschehen sei. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren. Mit Daumen und Zeigefinger der einen Hand griff ich nach dem Brieföffner, und mit der anderen öffnete ich das Selbstmordfenster und ließ ihn die todbringenden Meter hinunter ins Rosenbeet fallen.
    »Lebwohl«, sagte ich laut und wartete fast auf eine Antwort. Das war das einzige Mal, dass ich mich gefragt habe, ob ich hier draußen langsam den Verstand verliere. Und das habe ich Nella am nächsten Tag auch geschrieben. Willst du nicht bald zurückkommen?, habe ich geschrieben. Ich habe Angst, langsam wahnsinnig zu werden, wenn ich alleine hier bin. Nella hat noch nicht geantwortet. Natürlich nicht. Die Post hat meinen Brief erst heute Morgen mitgenommen, sodass Nella ihn hoffentlich Freitag hat, und ich werde frühestens in einer Woche und einem Tag von ihr hören. Dann kann ich auch ebenso gut damit beginnen, Ihnen all das zu erzählen, was Nella mir von der Zeit berichtet hat, als sie an Antonias Sterbebett zurückgekehrt ist, damals vor fünf Jahren. Vielleicht hoffe ich ja – wenn auch nur ein ganz klein wenig – Nella dabei etwas weniger zu vermissen.

September 1936

Ein Telegramm von einem Freund
    Ich habe mich lange gefragt, wo Nellas Teil der Geschichte sinnvollerweise beginnen sollte. Damals, als Nella sich eng an Fräulein Lauritsens Leiche schmiegte? Oder damals, als sie beinahe aus dem Selbstmordfenster gesprungen wäre, stattdessen jedoch ihr Erspartes gegen ein erbärmliches Dachzimmer in Kopenhagen eingetauscht hatte? Ich habe mich in aller Bescheidenheit an beiden Anfängen versucht, und noch an ein paar anderen, die ich gar nicht erst erwähnen will. Doch nach ein paar Seiten hatte ich das Gefühl, dass etwas fehlte. Etwas Wichtiges. Lassen Sie es mich also noch einmal versuchen.
    Nellas Teil der Geschichte begann mit einem Telegramm, das beinahe nie angekommen wäre. Sie hatte einen ihrer harten Tage hinter sich, unmögliche Schüler an unmöglichen Orten in der Stadt und zum Abschluss eine unmögliche Straßenbahn, die mit der üblichen Verlässlichkeit allzu weit von ihrer Haustür entfernt hielt. Sie musste, das billige gelbe Notenheft unter dem Mantel versteckt, durch einen feinmaschigen Vorhang aus Regen laufen, und als sie um die Ecke der Hedebygade bog, kam ihr wie an all den anderen Tagen zuvor der Gedanke, dass ihr Leben von hinten bis vorne aussichtslos war. Eine Tatsache, nannte sie das gewöhnlich, wenn die wenigen Menschen, mit denen sie Umgang pflegte, sich um ihr Wohlergehen sorgten. Der Rhythmus der Worte klang

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