Das Turmzimmer
Liljenholm herunter, durch das Vorzimmer und das Teezimmer und das Speisezimmer in die Bibliothek, und in ihrem Bauch kribbelte es. Sie wusste, dass jemand dort drinnen auf sie wartete, jemand, den sie gut kannte. Sie breitete die Arme aus. Doch in dem Moment, in dem sie erwartete, hochgehoben zu werden, spürte sie ein paar kräftige Hände um ihren Hals. Im Traum und nicht in der Wirklichkeit, Gott sei Dank im Traum. Doch in der Wirklichkeit war sie langsam mehr und mehr davon überzeugt, dass das doch nicht nur ein Traum sein konnte. Es war diese Erinnerung, die sie jede Nacht im Bett hochschrecken ließ.
Jemand musste damals in der Bibliothek von Liljenholm versucht haben, sie zu erwürgen. Jemand, der nicht gezögert hatte zuzudrücken. Sie versuchte ihn zu fokussieren, blinzelte mehrmals, doch über den Menschen, der sich vor ihr auftürmte, hatte sich Dunkelheit gesenkt. Die Hände des Betreffenden zitterten vor Anstrengung, und sie wusste nur, dass sie kalt und feucht und sehr viel stärker als ihre eigenen waren. Noch heute hatte sie keine Ahnung, wem sie gehört haben könnten. Das war eigentlich das Schlimmste daran, denn es mussten die Hände von jemandem aus ihrer engsten Familie gewesen sein. Von ihrer Mutter oder ihrem Vater oder von Lily oder Fräulein Lauritsen. Theoretisch gesehen hätten es natürlich auch die eines Fremden gewesen sein können, aber von wem? Soweit Nella sich zurückerinnern konnte, hatten sie so gut wie nie Besuch gehabt.
Während der Zug von einem trostlosen Bahnhof zum nächsten dahinschlich, näher und näher an Liljenholm heran, viel zu nahe an Liljenholm heran, schweiften Nellas Gedanken von dem Albtraum zu Simon. Als Nella noch klein war, hatte Antonia jeden Tag von ihm erzählt. Nella trocknete bei dem Gedanken ihre Hände an ihrem Mantel, wie sie es schon die ganze letzte Stunde über getan hatte. Aber es half nicht. Sie hatte sicher tausend Mal gehört, was für ein unglaublich edler Mensch Simon gewesen war. Schön, ritterlich, begabt, und im Grunde war es ärgerlich, dass Nella weder das eine noch das andere von ihm geerbt hatte. Aber so war das Schicksal nun einmal. Launisch im besten Fall.
»Aber jetzt ist er ja schon viele Jahre tot«, hatte Nella immer dann leise eingewandt, wenn sie sich inbrünstig gewünscht hatte, dass Antonia ihn dort lassen würde, wo seine Reste zweifellos ruhten. Auf dem Grund des Sees, zusammen mit den Angelutensilien oder was auch immer er bei sich gehabt haben mochte. Nella sah Antonia vor sich. Ihr Gesicht war aus einem harten Material gegossen, das an einem Mundwinkel rissig wurde, wenn sie sprach.
»Du ähnelst Lily jeden Tag mehr«, hatte sie gesagt. »Sie musste das Messer auch immer in die Wunde stechen und herumdrehen, bis eine Reaktion kam. Aber du kannst dir die Mühe sparen. Ich habe dir nichts mehr zu sagen, und da ist die Tür. Ja, da hinter dir. Worauf wartest du noch?«
Nella hatte nie gewagt zu sagen, dass sie eine ordentliche Erklärung erwartete, obwohl sie in Wahrheit genau das tat. Sie hatte wohl gedacht, dass Antonia ihr die irgendwann einmal freiwillig geben würde. Ihr erzählen würde, warum Lily sich umgebracht hatte und Simon tot und alles verändert war und Nella sich an nichts erinnern konnte, nicht einmal an ihren eigenen Vater oder ihre Tante. Und schließlich und endlich kam Antonia auch mit einer Erklärung. Oder zumindest mit einem Ansatz von einer Erklärung.
Nella zuckte im Zugabteil zusammen, und ein Mann sah sie von dem gegenüberliegenden Sitz aus besorgt an. Er hatte lockiges, mit Brillantine frisiertes Haar und strich sich eine Ponyfranse aus den Augen, die sehr blau waren.
»Sie weinen ja, meine Liebe. Nehmen Sie das.«
Nella stutzte. Die Stimme gehörte eindeutig einer Frau, und sie sah Nella direkt in die Augen und reichte ihr ein frischgebügeltes Taschentuch. Nella stieg die Röte in die Wangen, sie sagte, dass ihr nichts fehle. Die Frau blinzelte sie an.
»Das wird schon wieder«, sagte sie. Nella hätte ihr am liebsten gesagt, wie es tatsächlich aussah: Das wird überhaupt nicht wieder, und ich habe Angst, dass es von jetzt an nur noch schlimmer wird. Doch stattdessen bedankte sie sich für die Freundlichkeit und drückte die steife Baumwolle gegen die Augen, bis alles davor weiß wurde.
Antonia war wütend gewesen, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Vor zehn Jahren, die sich wie ein einziger Tag anfühlten.
»Was machst du mit meinem Zettel?«, hatte sie mit zitternder
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