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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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Stimme gefragt, und Nella hatte sich wieder wie ein kleines Kind gefühlt und nicht wie ihre achtzehn Jahre, die sie eigentlich war.
    »Ich … habe ihn gefunden.«
    Bei den letzten Worten hatten sich Antonias Züge verdunkelt. Als wäre das Licht in ihrem Gesicht ausgeknipst worden.
    »Du hast ihn gefunden ? Wo hast du ihn gefunden ?«, hatte sie gefragt, und Nella hatte unmöglich sagen können, »in deiner Schublade«, sodass sie ihr die erstbeste Lüge aufgetischt hatte.
    »In einem Buch. In Mary Shelleys Frankenstein . Ich habe in deinem Zimmer gesessen und darin gelesen, und da … ist der Zettel herausgefallen … Mitten in dem Abschnitt, in dem das Monster abhaut.«
    »Gewöhnlich lügst du mich nicht an«, hatte Antonia geantwortet. »Das sieht dir nicht ähnlich, Nella.«
    Jedes Mal, wenn Nella an dieses Erlebnis zurückdachte, sah sie, wie Antonia sich vor ihr auftürmte, groß und mächtig. Obwohl sie eigentlich genau wusste, dass sie ihrer Mutter längst über den Kopf gewachsen war. Selbst wenn Antonia ihre höchsten Absätze trug, was sie selbst dann oft tat, wenn sie einfach nur dasaß und schrieb, war Nella immer noch größer. Antonia hatte den Kopf schräg gelegt, als würde sie sich ihren Teil denken.
    »Gib mir den Zettel, Nella. Sofort!«
    Antonia hatte ihn langsam zusammengeknüllt und in den Kamin geworfen, doch Nella erinnerte sich noch gut an das, was darauf stand. Sie erinnerte sich auch genau, was sie gedacht hatte, als sie ihn gelesen hatte. Liebe Lily, du hast recht, so kann es nicht weitergehen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als dem ein Ende zu bereiten. Dein Simon.
    »Hatten Vater und Lily ein Verhältnis, Mutter?«
    Der Gedanke war Nella eigentlich schon öfter gekommen. Vielleicht weil Antonias Hass auf Lily ansonsten völlig unverhältnismäßig gewesen wäre. Sie sah Antonias Brauen vor sich. Dünne Striche, die nach oben zeigten.
    »Nein, weiß Gott, das hatten sie nicht«, hatte sie geantwortet. »Simon und ich haben uns geliebt. Er war mein Ein und Alles. Das weißt du doch.«
    »Aber warum …?«
    Nella hatte sich geduckt, als Antonia zu ihr getreten war. Doch Antonia wollte sie nicht mit der harten, flachen Hand oder ihren noch härteren, nicht ganz so flachen Bügeln schlagen. Sie hatte ihr nur leicht die Wange getätschelt.
    »Warum was …?«
    Nella hatte versucht sich aufzurichten.
    »Ja, warum hat Vater an Lily geschrieben, dass etwas aufhören muss, und mit dein Simon unterschrieben?«
    Antonia hatte sie lange mit ihrem seltsamen, schrägen Blick angesehen.
    »Ich habe die ganzen Jahre versucht dich zu schonen«, hatte sie gesagt. »Gott weiß, warum du das nie zu schätzen gewusst hast. Vielleicht also hast du recht. Vielleicht sollte ich dir die Wahrheit sagen. Du bist wohl alt genug, sie zu erfahren. Bist du nicht achtzehn?«
    Nella hatte gedacht, dass sich jetzt alles klären würde. Dass Simon in Wirklichkeit Lily geliebt hatte, so wie Madame Rosencrantz das vor wenigen Jahren behauptet hatte. Doch Antonia hatte etwas anderes gesagt, und ihre Augen hatten dabei nicht ein einziges Mal geblinzelt.
    »Wenn du nicht wärst, Nella von Liljenholm, wären sowohl Simon als auch Lily heute noch hier. Das ist die traurige Wahrheit, mein Mädchen. Das Ganze ist deine Schuld. Du hast sie getötet, bist du jetzt zufrieden?«
    Antonias Kiefer hatte sich auf und ab bewegt, doch Nella hatte ihr unmöglich weiter zuhören können. Sie hatte es natürlich versucht, hatte aber nur irgendetwas mit niemals geboren worden mitbekommen. Sie sah sich aus dem Arbeitszimmer stürzen, durch die Bibliothek und das Esszimmer und das Teezimmer. Der Staub in der Luft stand still wie ängstliche Insekten, und Fräulein Lauritsen war nirgends zu sehen. Natürlich nicht. Ihre Laurits war seit vierzehn Tagen tot, und trotzdem konnte sie nicht aufhören, nach ihr zu suchen. In der Küche, in der Kammer oben, im Ankleidezimmer, wo Fräulein Lauritsen so oft Kleidung ausgebessert hatte. Doch als die Tage vergangen waren, war es, als wäre ganz Liljenholm langsam zusammen mit ihr verschieden. Selbst die Treppe gab nicht einen Laut von sich, als Nella hoch in die erste Etage rannte. Im Selbstmordzimmer fiel das Licht in einem Kegel durch das Fenster.
    »Laurits?«
    Der einzige Mensch, der ihr etwas bedeutete, konnte ihr nicht mehr antworten. Und in den letzten Tagen war ihr außerdem eine Veränderung aufgefallen. Es waren die Farben. Sie waren auf seltsame Weise verblasst, als hätten sie zu lange

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