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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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schwang nun etwas anderes mit. Er war nie energisch gewesen. Das beherzte Durchgreifen hatte er anderen überlassen. Doch hier, in diesem alten Wohnzimmer, vollführte seine Stimme plötzlich eine Kehrtwende.
    Lina sah ihn an. Erstaunt. Dann griff sie wortlos zur Maus, klickte das Symbol für »Neue Nachricht« an und tippte schnell ein paar Sätze ein. Sie benutzte sechsmal das Wort »bitte«.
    »Bitte sag uns, wo du bist. Bitte nenn uns deine Adresse. Bitte setz dich mit deiner Ärztin in Verbindung. Bitte geh dort ganz bald zu einem Arzt. Bitte pass auf dich auf. Bitte bleib nicht zu lange fort.«
    Ihr fiel auf, dass sie dieses Wort bereits in ihrer ersten Mail an Martha oft gebraucht hatte, mehr, als es sonst ihre Art war. Ohne sich zu korrigieren, drückte sie auf »Senden«.
    Sie warteten eine gute Stunde auf Antwort. Doch das Mail-Postfach vermeldete »Keine neue Nachrichten«.
    »Lass uns schlafen gehen.« Es war Hans, der irgendwann aufstand. Er streckte Lina die Hand hin.
    Sie zuckte zusammen, doch dann ließ sie sich von ihm hochziehen. Seine Hand fühlte sich kühl an, kühl und faltig. Fast erschreckte sie das. Wie lange hatte sie diese Hand nicht mehr angefasst? Früher hatte er damit kugelbäuchige Kastanienmännchen gebaut und gerissene Glasperlenketten wieder aufgefädelt und ausgerenkte Puppenarme repariert, und Lina hatte ihn dafür bewundert. »Du himmelst deinen Vater an«, wurde Martha nicht müde zu wiederholen, und eine leichte Bitterkeit verirrte sich in ihren Tonfall, während sie das sagte. Erst später begriff Lina, dass sie ihrer Mutter immer nur den zweiten Platz eingeräumt hatte, die Silbermedaille in der Olympiade ihrer Kindheit. Gold war dem Vater vorbehalten, bis er sich dann eines Tages selbst vom Siegertreppchen stürzte und in Kauf nahm, dass der Applaus der Tochter jäh abbrach.
    Jetzt ließ sie die faltig gewordene Hand für einige Momente in ihrer ausruhen, als müsste sie die schmalen Finger mit Wärme aufladen, um sie dann abrupt wieder loszulassen.
    »Ja, versuchen wir zu schlafen«, entgegnete sie kühl.
    Es war schon die zweite Nacht, die sie mit ihrem Vater unter einem Dach verbrachte.
     
    Über dem Meer sind jetzt Regenwolken aufgezogen. Sie ballen sich zusammen und nehmen dem letzten Blau binnen Minuten jede Chance.
    Lina zieht ihren Anorak fester um sich. Sie macht keine Anstalten umzukehren, obwohl Hans seinen Schritt mit dem stärker werdenden Wind verlangsamt.
    Als die ersten Tropfen fallen, läuft er gut fünf Meter hinter ihr. Der Abstand zwischen ihnen wird von Minute zu Minute größer. Ihr Vater will zurück, das spürt sie, aber da ist etwas in ihr, das weiterdrängt. Sie hält ihr Gesicht dem Regen entgegen, lässt abspülen, was sie heute früh notdürftig an Schminke aufgetragen hat. Rouge und Wimperntusche bilden nun bunte Rinnsale, die Maskerade macht sich davon. Auch tief in ihr drinnen löst sich etwas, registriert Lina erstaunt und erleichtert zugleich. Dieser feste Kloß, der seit nunmehr zwei Tagen wie eine eiserne Kugel in ihren Eingeweiden sitzt und ihr Angst macht, Angst in allen Schattierungen, beginnt zu schmelzen. Und während der Regen stärker wird, fühlt sie auf einmal, wie er die Angst dabei mitnimmt.
    Unwillkürlich holt sie Luft. Ihre Lungen füllen sich, dehnen sich, weiten sich. Über dem Meer rollt Donner heran, leise, mit einem Unterton, der Größeres verheißt.
    Als der erste Blitz über dem aufgewühlten Wasser aufleuchtet, dreht sich Lina zu ihrem Vater um.
    Hans sieht sie an, sieht seine Tochter an, die dasteht in ihrem alten blauen Anorak und sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht streicht. In ein paar Schritten ist er bei ihr. Als er sie in den Arm nimmt, gibt sie ihren Widerstand auf. Es sind nur ein paar Momente, aber das erste Mal seit über elf Jahren lässt sie zu, wonach sich das kleine Mädchen in ihr so oft gesehnt hat. Es ist ein heimliches Sehnen gewesen, dem sie keine Chance gegeben hat. Sie hat sich den Schmerz der Mutter zu eigen gemacht und dem Vater fortan jeden Zugang verwehrt.
    Wahrscheinlich ist es der Regen, denkt sie, der ihr da über die Wangen läuft. Und im selben Moment weiß sie, dass Regen niemals so heiß sein kann wie Tränen.
    »Ist ungewöhnlich für die Jahreszeit, so ein Gewitter«, sagt sie und löst sich aus der Umarmung.
    Hans nickt. »Früher hast du immer große Angst davor gehabt.«
    »Und du bist zu mir ins Kinderzimmer gekommen und hast mir was von Spannungen erzählt, die sich

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