Das unendliche Blau
lassen.
Der Wein schmeckt fruchtig und schäumt leicht. Martha trinkt schnell einen zweiten und dritten Schluck, ohne Michele dabei aus den Augen zu lassen.
»Und du? Magst du das Leben?« Die Worte sind einfach so aus ihr herausgekommen. Martha, die solche Fragen sonst nicht mal denkt, sie kurzhält wie junge spielwütige Hunde, fühlt, dass sie rot wird.
Er streicht ihr über die Wange. Eine Berührung, die im Bruchteil einer Sekunde Gänsehaut bis in die Nackenwurzeln auslöst. »Könnte es sein, dass
du
dir diese Frage gerade stellst?«
Jetzt sieht sie zu Boden. Ein schwarz-weiß gefliester Küchenboden. »Wie meinst du das?«
»Ist das so schwer zu verstehen?«
»Wird das hier ein Katz-und-Maus-Spiel?«
»Wer ist die Katze und wer die Maus?«
»Okay«, sie lacht ihre Verlegenheit weg. »Mir fällt keine Frage mehr ein.«
»Wie wär’s mit einer Antwort?«
Sie wendet sich zur Terrassentür, die noch immer offen steht, lehnt sich gegen den Rahmen und trinkt einen weiteren Schluck Wein.
»Es klingt vielleicht eigenartig, aber bis vor ein paar Tagen habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, ob ich das Leben mag«, sagt sie leise.
»Hat sich seitdem etwas verändert?«
»Ja«, sie holt Luft. »Alles. Es hat sich alles verändert.«
Er nickt. »Gab’s einen Auslöser?«
»Ja.«
»Manchmal ist es ein Haarriss, der ein Erdbeben verursacht und einen urplötzlich mit so was wie Erkenntnis kollidieren lässt.«
»Woher weißt du …?«
Er tritt hinter sie, und sie spürt seinen Atem in ihrem Nacken. »Tja, nennen wir’s mal ganz profan Erfahrung.«
»Diese Maria vorhin … Ist sie …?«
Er lacht. »Du willst wissen, ob sie meine Freundin ist? Ja, aber in diesem Fall haben wir Erdbeben und Erkenntnis bereits hinter uns.«
Jetzt lacht sie auch.
Er wird wieder ernst. »Ich würde gern sagen, das sei eine lange Geschichte. Aber das wäre gelogen. Es ist eine kurze.«
»Das heißt Trennung?«
»Ich versuche es, ja.«
»Und sie?«
»Denkt in anderen Kategorien. Sie will besitzen und ist eifersüchtig auf alle, die sich mir nähern. Sogar auf meine Schwester.«
Martha sieht sich suchend nach einem Platz um, wo sie ihr leeres Glas abstellen kann. Er nimmt es ihr ab und legt es zusammen mit seinem in ein großes Porzellanwaschbecken, in das ein Wasserhahn beharrlich hineintropft.
»Irgendwie komisch …«, sagt sie.
»Was?«
»Mit Francesca habe ich auch am ersten Tag bereits über … na ja … so private Dinge geredet.«
»Ist wohl eine Familienkrankheit. Ich sehe meine Schwester übrigens heute Abend. Ein Freund von uns liest aus seinem neuen Buch, in der Aula der alten Universität.«
»Auf Italienisch?«
»Klar. Du kannst dich an den Klang der Sprache gewöhnen. Und ansonsten genießt du einfach den Raum und die Atmosphäre. Die Aula ist einer der schönsten Orte dieser Stadt. Danach gehen wir alle noch etwas trinken. Du lernst ein paar Leute kennen – und nebenbei Bolognas Nachtleben.«
»Klingt gut.«
»Wir treffen uns an der Piazza Galvani im Café
Zanarini
um halb acht. Auf einen ersten Schluck, bevor’s losgeht.«
»Was für ein Buch hat er geschrieben, dein Freund?«
»Eins über das Suchen und Finden.«
»Aha.«
»Recht philosophisch das Ganze, sehr klug in der Argumentation.«
»Du musst mir das Wichtigste übersetzen.«
»Das tu ich gern.« Er geht ins Wohnzimmer. »Also dann, sehen wir uns um halb acht?«
Ihr Nicken begleitet ihn zur Tür.
Als er weg ist, bleibt sie noch eine Weile in dem kleinen Flur stehen. Sie spricht seinen Namen aus. Michele. Erst leise, dann lauter. Sie mag, was sie hört.
[home]
9
E s stehen noch Strandkörbe im Sand. Ein paar vereinzelte, die anderen haben bereits wieder ihr Winterquartier bezogen. Die Ostsee spielt heute stürmisch auf, das Meer trägt Grau und dicke Schaumkronen; es riecht nach Algen und Salz und Schlick. Der Wind rüttelt an den Takelagen der Boote, die im Hafen nebenan vor Anker liegen. Er rüttelt auch an Linas Gedanken, denen sie hier am Strand Auslauf verordnet hat.
Hans hat sich angeboten, seine Tochter zu begleiten, als sie sagte, sie müsse raus, an die frische Luft.
Nun läuft er neben ihr, dort, wo die Wellen nach den Füßen der Spaziergänger greifen, versucht, Schritt zu halten mit ihr, was ihm sichtlich Mühe macht. Sein Atem ist schwergängig wie ein alter Motor, der seine besten Tage hinter sich hat und nun bei der kleinsten Anstrengung ins Stottern gerät.
Linas Blick ist starr auf das
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