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Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
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Entscheidung, hierherzufahren, die richtige gewesen ist. Sie kennt ihn nur zu gut, den Mechanismus in sich, der verlässlich schlechtes Gewissen und Schuldgefühle anzeigt, sobald sie beginnt, an sich zu denken. Sie hat kein sonderlich großes Talent darin, ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, vielleicht hat sie sogar Angst davor – und deshalb hat sie ihn sich implantiert, diesen Mechanismus, und ihn fortan mit Selbstlosigkeit geölt und mit Lebenslügen geschmiert.
    Sie tritt hinaus auf die Dachterrasse, die nun fürs Erste ihre sein soll, und spürt augenblicklich, wie sich ihr Herzmuskel wieder beruhigt.
    Heute Nachmittag hat sie ihre Ärztin angerufen, gleich nachdem sie in dem Laden der italienischen Telefongesellschaft ein neues Handy gekauft hat. Von der Sekretärin der onkologischen Abteilung wurde sie sofort weiterverbunden.
    Es wurde ein Gespräch wie unter guten Bekannten. Martha sah die junge Frau mit den Sommersprossen vor sich, wie sie dort in ihrem Büro an ihrem aufgeräumten Schreibtisch saß, das Foto mit den beiden Töchtern vis-à-vis. Sie sah die weiße Porzellanvase, in der jede Woche andere Blumen steckten. Mal Amaryllis, mal Tulpen, mal Pfingstrosen, mal Löwenmäulchen. Sie blühten durch alle Jahreszeiten hindurch, als wollten sie einen Kontrapunkt bieten zu dem, was in diesem Raum gesagt wurde, zu den Befunden, die kurzen Prozess mit dem Leben machten. Die gelben Rosen, die dort im September standen, als Martha hörte, was sie niemals hören wollte, hatten die Köpfe gesenkt.
    Wie es ihr gehe, fragte die Ärztin jetzt am Telefon.
    Gut, erwiderte Martha. Sogar besser als gut.
    Das könne sich bald ändern.
    Klar, sie wisse das, aber bis dahin wolle sie ihre Gedanken umlenken. Weg von der Krankheit, die ihr nach dem Leben trachte.
    Die Ärztin notierte sich Marthas Nummer und versprach, sich nach einem Kollegen in Bologna zu erkundigen, um mit ihm dann das weitere Vorgehen zu besprechen.
    »Halten Sie mich für verrückt?«, fragte Martha am Ende.
    »Was heißt das schon? Eigentlich nur, dass man die Dinge an einen anderen Platz stellt und alle anderen meinen, da stimmt was nicht, da habe jemand was ver-rückt.«
    »Interessante Sichtweise.«
    »Klar, Frau Schneider, dass Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihre Kollegen sich Sorgen machen. Aber
Sie
haben eine Entscheidung getroffen. Nennen Sie es verrückt, wie auch immer. Es ist
Ihr
Leben.«
    »Wird das Ende schwer sein?«
    Es entstand eine kurze Pause. Eine Pause, aus der Martha die Suche nach den richtigen Worten heraushörte. »Man kann heute viel machen«, sagte die Ärztin schließlich.
    Martha schluckte. Und in ihr breitete sich so etwas wie eine Ahnung aus. Eine leise Angst, die anklopfte. »Ach, noch etwas …«
    »Ja?«
    »Nennen Sie mich doch Martha.«
    Sie hörte die Frau am anderen Ende der Leitung lächeln. Man könne das hören, wenn jemand lächelt, hatte sie oft zu Kollegen gesagt, wenn es um Interviews am Telefon gegangen war. Manche hatten das für übertrieben gehalten, hatten sie deshalb belächelt.
    »Okay, Martha. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit dort in Italien. Muss schön sein jetzt im Frühherbst.«
    »Hier fühlt sich alles noch nach Sommer an.«
    »Umso besser.«
     
    Und dann kam Lina. Das schwierigere Gespräch. Die Tochter, die fast zweitausend Kilometer entfernt mit ihrem Vater bei Regen in einem Strandkorb saß und die Welt nicht mehr verstand. Sie hatten sogar ein wenig gelacht, Lina und sie, aber die Verzweiflung hatte mitgelacht.
    Nachdem Martha aufgelegt hatte, blieb sie noch eine Zeitlang sitzen auf dem Sofa, zwischen Giulias bunten Kissen. Morgen werde ich Blumen kaufen, dachte sie, während sie auf den flachen Tisch vor sich sah. Nur keine gelben Rosen …
    Diesen Gedanken hat sie mitgenommen in das Schlafzimmer, wo sie nun vor dem Kleiderschrank steht und überlegt, was sie heute Abend anziehen soll.
    Sie sieht auf die Uhr. Eine Stunde noch bis halb acht.
    Sie wählt Jeans und eine hellblaue Bluse, dazu eine graue Strickjacke, die sie sich über die Schultern hängt. Das Haar bürstet sie kräftig durch. Es ist kräftig, ihr Haar, dunkelblond und immer noch glänzend. Normalerweise bindet sie es im Nacken zusammen oder dreht es am Hinterkopf hoch. Heute beschließt sie, es offen zu tragen. Nein, denkt sie jetzt, hier, vor einem Spiegel, der an den Rändern etwas blind ist – sie wird nicht demnächst morgens Büschel für Büschel vom Kissen sammeln und irgendwann Tuch oder Turban tragen,

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