Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
Vom Netzwerk:
verlangsamt aber seinen Schritt. Oben schließt er eine von zwei Wohnungstüren auf und lässt Martha eintreten.
    Das Appartement ist klein. Ein Schlafzimmer, in dem außer einem Bett, einem Nachttisch und einem Kleiderschrank nichts steht. Ein Wohnraum, der von einem großen hellgrauen Sofa dominiert wird, auf dem viele bunte Kissen verstreut liegen. Ein flacher runder Tisch davor, ein Korb mit diversen Zeitschriften. Es gibt noch ein Bücherregal, das keinen Zentimeter Platz für Neuzugänge mehr lässt. Die Bücher stehen dicht an dicht, viele sind quer hineingelegt. Vor dem Fenster befindet sich ein Schreibtisch, der an ein altes Schulpult erinnert, mit nichts außer ein paar Stiften und einem Abreißblock darauf. Von da aus sieht man auf eine Terrasse, auf der mehrere Blumenkübel, ein Holztisch und zwei Stühle wie zufällig hingestellt scheinen.
    Martha sieht sich suchend nach einer Tür um.
    Michele fängt ihren Blick auf. »Hier«, sagt er und geht voraus.
    Sie folgt ihm in eine Küche und weiß sofort: Dies würde ihr Lieblingsraum werden. Über dem Gasherd eine Leiste mit Schneebesen, Pfannenwendern und Sieben. Regale mit Gewürzen und Geschirr. Säuberlich aufgeräumte Töpfe und Pfannen neben dem Ofen, ein großer Kühlschrank, der wie auf ein geheimes Zeichen hin laut zu brummen beginnt. In der Mitte ein runder Kacheltisch mit grünem Mosaik, an dem drei in verschiedenen Grüntönen lackierte Stühle stehen.
    Von der Küche aus betritt man die Dachterrasse. Die Tür klemmt etwas, und Michele hilft Martha, sie zu öffnen. Diesmal berühren sich ihre Hände nur kurz; als sie es bemerken, lassen sie sofort los und legen ein Lächeln dazwischen.
    Draußen wachsen Rosen, Rosmarin, Lorbeer, Lavendel, Oleander. Martha wendet sich Richtung Brüstung. Sie sieht Ziegeldächer in warmen Rottönen, Kirchtürme, die wie Ausrufezeichen Akzente setzen, Terrassen, Balkone, hier und da Wäscheleinen.
    »Es ist wunderschön«, stammelt Martha.
    »Ja, der Blick hat was«, entgegnet Michele. »Giulia lebt im Sommer auf dieser Terrasse. Wir haben hier schon an vielen Abenden viele Flaschen geleert.«
    »Eine gute Freundin also?« Sie versucht, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen.
    »Ja.« Er pustet sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Eine meiner besten.«
    »Bleibt sie lange in … wo war sie gleich?«
    »Sie ist in Kanada. Vancouver. Vor April kommt sie sicher nicht zurück. Sie hat dort an der Universität ein Projekt laufen.«
    »Was macht sie?«
    »Sie ist Ethnologin. Beschäftigt sich mit den Ureinwohnern dieser Welt. Aktuell mit denen, die wir als Kinder als Indianer bezeichnet haben. Da drinnen gibt’s jede Menge Literatur dazu, falls es dich interessiert.«
    Sie winkt ab. »Nicht wirklich.«
    »Wenn Giulia in Fahrt ist, hält sie einem stundenlang Vorträge über alte Stammesriten und Legenden und Medizinmänner.«
    »Medizinmänner?«
    »Ja. Die können manchmal mehr als unsere Ärzte, meint Giulia. Und ich glaube, sie hat nicht ganz unrecht.«
    Martha nickt und schweigt.
    Einige Minuten stehen sie nur nebeneinander, ohne etwas zu sagen. Sie ziehen die Momente in die Länge wie einen Gummi, dessen Reißfestigkeit sie prüfen wollen.
    Hier passiert gerade etwas, denkt Martha. Und sie weiß nicht, ob sie das gut finden oder besser die Flucht ergreifen soll. Sie will das Für und Wider ihrer Gedanken gerade auf ihre innere Waagschale werfen, als Michele sie mit einer Frage unterbricht.
    »Magst du einen Wein?«
    »Jetzt? Es ist erst vier.«
    Er lacht. »Gute Zeit für einen ersten Schluck. Ihr Deutschen seid immer ein bisschen zu streng.«
    »Nein, ich dachte nur …«
    »Hey, keine Ausreden.« Er geht zurück in die Küche, öffnet den Kühlschrank und holt eine Flasche Weißwein heraus. »Ich mag Giulia schon deswegen, weil sie immer etwas zu trinken kalt gestellt hat. Selbst wenn sie für ein paar Monate wegfährt. Sie weiß, dass ich herkomme, und legt etwas für mich hinein.«
    »Weiß sie auch, dass ich in ihre Wohnung ziehen werde?«
    »Ich hab ihr vorhin eine SMS geschickt und geschrieben, du seist eine gute Freundin von Francesca. Mehr musste ich nicht sagen. Außerdem freut sie sich, dass die Räume nicht leer stehen. Sie mag das Leben.« Er entkorkt die Flasche, holt zwei Gläser aus einem Schrank, gießt ein und reicht ihr eins.
    Als sie anstoßen, verhaken sich ihre Blicke ineinander wie Kletten, die sich Kinder gegenseitig auf ihre Pullis werfen und die sich nur schwer wieder lösen

Weitere Kostenlose Bücher