Das Ungeheuer
für die einen tabu ist, ist für die anderen heilig. Solche Launen sollten auf die Wissenschaft keinen Einfluß haben. Das einzige, was in dieser Welt unveränderlich ist, sind die Naturgesetze, die das Universum regieren. Vernunft ist der endgültige und höchste Richter, nicht irgendwelche moralistischen Grillen.«
»VJ, es ist nicht deine Schuld«, sagte Marsha leise, traurig den Kopf schüttelnd. Sie sah ein, daß es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren. »Deine überragende Intelligenz hat dich isoliert und ein Wesen aus dir gemacht, dem die
menschlichen Charaktereigenschaften Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Liebe abhanden gekommen sind. Du hast das Gefühl, keine Grenzen zu haben. Aber dir sind Grenzen gesetzt. Du hast niemals ein Gewissen entwickelt, doch das vermagst du nicht zu erkennen. Es ist so, als versuche man jemandem, der von Geburt an blind ist, den Begriff der Farbe zu erklären.«
VJ sprang genervt von seinem Stuhl auf. »Bei allem gebührenden Respekt«, sagte er, »ich habe keine Zeit für solche Spitzfindigkeiten. Ich habe Arbeit. Ich muß jetzt wissen, was ihr vorhabt.«
»Dein Vater und ich werden uns unterhalten«, erwiderte Marsha, VJs Blick ausweichend.
»Dann fangt schon an, unterhaltet euch!« VJ stemmte die Hände in seine schmalen Hüften.
»Wir wollen alleine miteinander reden, ohne daß Kinder dabei sind«, sagte Marsha.
VJ verzog das Gesicht zu einem Flunsch. Sein Atem hatte sich beschleunigt, seine Augen loderten. Wie er so dastand, erschien er Marsha plötzlich wieder so wie der kleine Junge, der er ja eigentlich war. Er drehte sich abrupt um und stapfte aus dem Raum, die Tür wütend hinter sich zuknallend. Marsha hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloß drehte. VJ hatte sie eingeschlossen.
Marsha wandte sich zu Victor um. Victor schüttelte den Kopf in hilfloser Bestürzung.
»Besteht bei dir jetzt noch irgendein Zweifel darüber, womit wir es zu tun haben?« fragte Marsha.
Victor schüttelte lahm den Kopf.
»Gut«, sagte Marsha. »Nun, was hast du vor zu tun?«
Victor schüttelte lediglich abermals den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, daß es soweit kommen würde.« Er sah seine Frau an. »Marsha, du mußt mir glauben. Wenn ich gewußt hätte...« Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er brauchte Marshas Unterstützung, ihr Verständnis. Aber selbst er hatte Probleme, die Größe seines Irrtums zu begreifen. Wenn sie diese Sache je durchstehen würden, bezweifelte er, ob er mit seiner Schuld weiterzuleben vermochte. Wie konnte er da erwarten, daß Marsha zu ihm hielt?
Victor schlug die Hände vors Gesicht.
Marsha berührte seine Schulter. So schrecklich die Situation war, zumindest war Victor endlich wach geworden. »Wir müssen entscheiden, was wir jetzt tun sollen«, sagte sie leise.
Victor erhob sich von seinem Stuhl, mit einem Schlag aus seiner lähmenden Starre erwachend. »Ich bin der Schuldige, ich allein. Du hast völlig recht: VJ wäre nicht der, der er ist, wenn ich nicht den Ehrgeiz gehabt hätte, der Natur ins Handwerk zu pfuschen.« Er wandte sich erneut zu seiner Frau um. »Zuallererst mal müssen wir hier raus.«
Marsha schaute ihn mit ernster Miene an. »Denkst du etwa, VJ wird uns so mir nichts, dir nichts hier rausspazieren lassen? Nimm Vernunft an! Hast du vergessen, wie er solche Probleme in der Vergangenheit gelöst hat? David, Janice, der arme Lehrer, die Babys - und jetzt seine lästigen Eltern.«
»Glaubst du, er wird uns hier bis in alle Ewigkeit eingesperrt halten?« fragte Victor.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was er vorhat. Ich glaube bloß nicht, daß es so einfach sein wird, hier wieder rauszukommen. Er muß noch irgend etwas für uns empfinden, sonst hätte er sich gar nicht erst die Mühe gegeben, uns alles zu erklären, und es würde ihn auch nicht interessieren, was wir von alldem halten und was wir vorhaben. Aber er wird uns ganz bestimmt nicht hier rauslassen, solange er nicht fest davon überzeugt ist, daß wir ihm keinen Ärger machen werden.«
Eine Weile schwiegen sie beide. Dann sagte Marsha: »Vielleicht können wir eine Art Handel mit ihm abschließen. Zum Beispiel, daß er einen von uns gehen läßt und den anderen hierbehält, gewissermaßen als Pfand.«
»Du meinst, daß er einen von uns als Geisel hierbehält?«
Marsha nickte.
»Wenn er sich darauf einlassen sollte, meine ich, daß besser du gehen solltest«, erklärte Victor.
»Nein«, sagte Marsha und schüttelte den Kopf. »Wenn, dann
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