Das Ungeheuer
Intelligenz aus, die seinem engelhaften Babygesicht völlig hohnsprach. Marsha fühlte sich plötzlich um zehn Jahre zurückversetzt. Dieser Junge war das absolute Ebenbild von VJ, als dieser im gleichen Alter gewesen war.
Marsha war sofort klar, was sie da vor sich hatte: die letzte Zygote. Die, von der VJ behauptet hatte, sie sei ihm bei seiner Implantationsstudie verlorengegangen. Ein Kind, das aus ihrem eigenen sechsten Ovum entstanden war.
Marsha war vor Entsetzen wie gelähmt. Ein kleiner Schrei entrang sich ihrer Brust, als sie die schreckliche Wahrheit begriff: Der Alptraum war nicht vorüber.
Mrs. Steinburger sprang auf und kam zu Marsha herüber. »Frau Dr. Frank?« fragte sie besorgt. »Sind Sie okay?«
»Ich... es geht schon wieder«, sagte Marsha matt. »Entschuldigung! Ich bin okay.« Sie konnte ihren Blick nicht von dem Kind losreißen.
»Also, was ich sagen wollte«, fuhr Mrs. Steinburger fort, »dieser Junge macht uns noch irre. Neulich wollte er erst - «
Marsha schnitt ihr das Wort ab. Alle Kraft zusammenraffend, um das Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten, sagte sie: »Mrs. Steinburger, wir werden einen Termin für Jason selbst vereinbaren müssen. Ich glaube wirklich, daß es das beste wäre, wenn ich ihn allein sprechen könnte. Aber es muß an einem anderen Tag sein.«
»Nun, wie Sie meinen«, erwiderte Mrs. Steinburger. »Sie sind die Ärztin. Sie wissen, was richtig ist. Ein paar Tage werden wir es schon noch aushalten. Ich hoffe nur, Sie können uns helfen.«
Sobald sie draußen waren, schloß Marsha die Tür hinter ihnen und lehnte sich ermattet dagegen. Sie seufzte und sagte laut: »Das hoffe ich auch.« Sie wußte, daß sie irgend etwas gegen dieses Kind unternehmen mußte, diesen Wunderknaben, dessen Gemeinheit die ihres Sohnes womöglich noch übertreffen mochte. Aber was?
Sie nahm den Hörer ab, um Joe Arnold anzurufen, daß sie ein bißchen später kommen würde. Allein seine Stimme am Telefon zu hören, half ihr, sich wieder ein wenig zu beruhigen.
»Nun, ich bin froh, daß du nicht versuchst, mir abzusagen.« Er lachte herzlich. »Ich habe mir gedacht, wir könnten heute abend vielleicht zu Hause essen. Man kann einen Hund schließlich nicht gleich an seinem ersten Abend im neuen Heim allein lassen. Ich hoffe, du erträgst meine Kochkünste mit Haltung. Ich mache ein tolles Chili. Ich hab' es gerade in Arbeit.«
Marsha hoffte, eine ganze Reihe von Dingen mit Haltung zu ertragen, angefangen bei der Wahrheit. Und von den Menschen, denen sie am nächsten stand - Valerie, Joe, Jean -, war vielleicht Joe derjenige, dem sie sich anvertrauen sollte, derjenige, auf den sie am meisten zählen konnte. »Chili klingt gut«, sagte sie. »Und ich hätte auch Lust, zu Hause zu essen.« Es lag ihr auf der Zunge, ihm von Jason zu berichten, aber die paar Stunden würde sie es noch aushalten. Sie wollte nichts am Telefon erzählen.
»Prima! Ich dachte schon langsam, ich müßte mich als Patient anmelden, um dich mal alleine zu treffen. Also dann um sieben in der Zoohandlung? Ich glaube, die haben bis acht geöffnet.«
»Gut, dann um sieben. Und... vielen Dank, Joe!«
Sie legte den Hörer auf und holte ihren Mantel.
Als Marsha zu dem Einkaufszentrum fuhr, fühlte sie sich schon viel besser; allein der Gedanke, daß sie bald jemandem die wahre Geschichte von Victors und VJs Tod erzählen würde, stimmte sie erleichtert. Sie hatte die ganze Sache so lange mit sich herumgeschleppt. Es würde ihr ungemein guttun, sie sich endlich von der Seele zu reden. Und es machte sie um so froher, daß sie Joe hatte, mit dem sie reden konnte. Seit dem Tag, an dem er in ihr Leben getreten war, war er ein richtiger Glücksfall für sie gewesen.
Sie fuhr auf den Parkplatz des Einkaufszentrums, suchte
sich einen Platz ganz in der Nähe des Eingangs der Zoohandlung und stellte den Motor ab. Sie hielt sich am Lenkrad fest und brach in leises Schluchzen aus. Irgendwie würde sie diesem letzten Dämonenkind entgegentreten und mit Joes Hilfe den Alptraum, den ihr Mann begonnen hatte, für immer beenden.
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