Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Urteil durch Antipathie getrübt. Eine Schwäche, mit der ich mich hätte identifizieren können, habe ich an Saitsew nicht wahrgenommen. Im Gegenteil, er wirkte vollkommen selbstsicher, fast als sei er der Herr des Verfahrens, ohne dabei je unhöflich zu wirken. Als er sich nach dem Ende des Prozesses bei mir bedankte, war ich erleichtert, als sich die Tür des Gerichtssaales hinter mir schloss.
Von der langen Herrschaft der Gewalt
In einem kleinen westdeutschen Landstädtchen wurden an einem Mittwoch im Frühling 1999 in der Arztpraxis Binder und Ross gegen 13 Uhr zwei Arzthelferinnen von einem jüngeren Mann südländischen Aussehens erschossen: Eine Nachbarin hatte ihn in einem kleinen Wagen ankommen, ruhigen Schrittes die Arztpraxis betreten, nach mehreren Knallen zu seinem Auto zurücklaufen und dann damit eilends davonfahren sehen. Sie hatte sich einen Teil der Kennzeichennummer merken können. Am gleichen Abend stellte sich, hundert Kilometer vom Tatort entfernt, Yüllan, ein junger jesidischer Kurde, von seinen Brüdern begleitet, der Polizei: Er wäre bei einem Besuch seiner Freundin in der Arztpraxis von einer pistolenbewaffneten Meute verfolgt und bedroht worden und hätte in Notwehr mehrmals geschossen, wobei es sein könnte, dass ein Schuss versehentlich jemand anderen getroffen hätte. Bei der Vernehmung der Familienangehörigen des Täters stellte sich allerdings heraus, dass dieser zu diesem Zeitpunkt schon vom Tod der Freundin und einer ihrer Kolleginnen wissen musste, denn seine Geschwister hatten die Nachricht, mit der auch die Autonummer eines Verdächtigen bekannt gemacht wurde, im Radio gehört, woraufhin der Vater unter der Drohung, seinen Sohn sonst anzuzeigen, von diesem verlangt hatte, sich selbst zu stellen. Yüllan blieb bei seiner Version, auch als die Polizei ihm aufgrund weiterer Zeugenaussagen nachwies, dass zu jener Zeit niemand anders als er das Arzthaus betreten haben konnte. Sein Anwalt, aber auch die Staatsanwaltschaft wollten daraufhin klären lassen, ob er nicht unter Verfolgungswahn leide. So kam es, dass ich ihn, der als Heranwachsender in der Jugendstrafanstalt in Untersuchungshaft einsaß, drei Wochen später dort begutachten musste.
In den Akten hatte ich gelesen, dass alle Tatortspuren darauf hinwiesen, dass der Täter die beiden Frauen, die vor ihm in den kleinen Injektionsraum der Praxis geflüchtet waren, durch gezielte Schüsse regelrecht hingerichtet hatte. Ich hielt Yüllan das vor. Aber auch mir gegenüber bestand er darauf, keine der beiden Frauen erschossen zu haben. Sie müssten von der Meute, die ihn bis in die Praxis hinein verfolgt hätte, getötet worden sein, seinem Eindruck nach habe es sich um richtige Profikiller gehandelt. Hingewiesen auf die Widersprüche zwischen seiner Aussage und dem, was er laut Bekundung seiner Tante gesagt haben soll kurz bevor er sich gestellt hätte, nämlich dass er ein Mädchen getötet habe, wiederholte er nur, die Killer seien die Mörder und nicht er; »seine« Lisa, eine der getöteten Arzthelferinnen, sei ihm das Liebste von der Welt gewesen, nie hätte er ihr etwas zuleide tun können, jetzt sei ihm alles egal, mit ihrem Tod habe sein Leben jeglichen Sinn für ihn verloren, man solle ihn ruhig verurteilen.
Ich insistierte zunächst nicht weiter und wandte mich mit ihm seiner Lebensgeschichte zu. Yüllan berichtete, er entstamme einer jesidischen Scheichfamilie, einer Art Geburtsadel. Im Alter von zwei Jahren sei er nach Deutschland gelangt, mit seinen Eltern und Geschwistern, die in Syrien und der Türkei politisch verfolgt worden seien. Diese Verfolgung schmückte er mit Geschichten aus, die unmöglich den Tatsachen entsprechen konnten: Er sei im Alter von fünf Jahren (da war er schon längst in Deutschland!) vom türkischen Militär monatelang in einen Käfig eingesperrt worden und Augenzeuge der Erschießung seines ältesten Bruders gewesen, des ersten höheren PKK-Offiziers jesidischen Ursprunges und einer der kurdischen Nationalhelden.
Anders als diese Geschichten, die er sich ausgedacht haben musste, war Yüllans Kindheit im Elternhaus nicht nur seinen eigenen Bekundungen nach tatsächlich von Gewalt und Misshandlungen geprägt gewesen. Weil er schon als kleiner Junge oftmals mit blauen Flecken zur Schule gekommen war, hatte das Jugendamt den Vater mehrfach verwarnen und schließlich Yüllan und einen seiner Brüder in einem Pflegeheim und später bei einer Pflegefamilie unterbringen müssen. Daraufhin
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