Das Unglück der kleinen Giftmischerin
hatte der Vater den Jugendamts Vertreter mit dem Tode bedroht. Auch der Zweitälteste Bruder Özlan, der nach dem Ableben des PKK-Kämpfers die Rolle des ältesten Bruders übernahm, hätte seinen Geschwistern mit eiserner Hand Gehorsam und Familiendisziplin eingeprügelt. Wie der Vater operierte auch Özlan schon bei kleinen Zwistigkeiten mit Todesdrohungen. Als zum Beispiel die jüngste Schwester gegen das Verbot des Vaters eine wegen Unbotmäßigkeit von ihren Mann verstoßene Schwägerin besuchen wollte, hatte Özlan im Einverständnis mit dem Vater für den Fall, sie täte es dennoch, angekündigt, sie totzuschlagen. Es blieb nicht immer nur bei Drohungen. Zur gleichen Zeit, als Yüllan in Untersuchungshaft war, saß Özlan wegen eines Tötungsdeliktes im Gefängnis.
Im Alter von elf Jahren zeigte Yüllan seinen Vater wegen Misshandlung an und verlangte, in einem Heim untergebracht zu werden. Dort konnte er aber nicht bleiben, weil er schon bei geringsten Anlässen auf seine Mitbewohner einschlug. Mit der Pflegefamilie, die ihn danach aufnahm, kam er zwar etwas besser zurecht, aber wenn ihm ein Wunsch nach Süßigkeiten oder nach einem Kleidungsstück nicht gleich erfüllt wurde, entnahm er einfach das Geld, das er dazu brauchte, dem pflegeväterlichen Portemonnaie und kaufte sich den ersehnten Gegenstand selbst. Nach einem halben Jahr wurde er deshalb wieder nach Hause zurückgeschickt. Entgegen den Versprechungen, die ihm vom Vater und vom älteren Bruder für den Fall seiner Rückkehr gemacht worden waren, empfing man ihn dort gleich mit Prügel, weil er mit seiner Anzeige Schande über die Familie gebracht hätte. Mittlerweile war er fünfzehn Jahre alt geworden. Mit siebzehn vermittelte ihm das Jugendamt eine eigene Wohnung, weil die regelmäßig in Gewalt ausartenden Konflikte zu Hause unerträglich geworden waren.
Trotz dieser schlechten Bedingungen schaffte er, wenn auch mit Mühe, den Realschulabschluss; die Schlosserlehre, die er daraufhin begann, brach er allerdings nach zwei Jahren ab. Auch ein Kindergartenpraktikum - das Jugendamt hatte ihm vorgeschlagen, das Fachabitur zu machen und anschließend Sozialpädagogik zu studieren - brachte er nicht zu Ende. Danach war er zwei Monate arbeitslos und Sozialhilfeempfänger, bis er eine ihn zufrieden stellende Arbeit bei einer Leihfirma fand. Außerdem jobbte er für einige Abend- und Nachtstunden als Türsteher in Diskotheken. Während dieser Zeit lernte er sein späteres Opfer Lisa Bittermann kennen.
Yüllan erzählte mir, dass er vorher schon mit über dreißig Mädchen geschlafen hätte. Nie hätte er sie selbst ansprechen müssen, immer seien es die Mädchen gewesen, die zuerst ihr Interesse an ihm bekundet hätten: Er käme eben bei Frauen gut an. Aber über eine Nacht hinaus hätte ihn kaum eine interessiert, und da er keiner seinen richtigen Namen gesagt hätte, sei es leicht gewesen, schnell Schluss zu machen. Yüllan redete über seine Diskoeroberungen leicht verächtlich und ohne jeden Respekt und zudem noch mit einem ziemlich überheblichen Stolz auf seine erotischen Erfolge.
Aber als das Gespräch auf Lisa kam, wurde sein Ton weicher. Bei ihr sei alles ganz anders gewesen. Als er sie in einer Disko zum ersten Mal sah, habe er sie gleich kennen lernen wollen, weil sie so hübsch war und so zerbrechlich aussah. Sie sei so schön gewesen, dass er sich nicht getraut habe, sie anzusprechen, erst über eine Freundin sei er schließlich doch mit ihr ins Gespräch gekommen. Er hätte sich sofort in sie verliebt. Als er sie am Ende des Abends um ihre Telefonnummer bat, habe sie die ihm nach einigem Zögern auch gegeben. Sie hätten dann miteinander telefoniert, sich noch einmal in der Disko getroffen und sich dort das erste Mal geküsst. Danach sei er regelmäßig zu ihr gefahren, das heißt in die Wohnung ihrer Eltern, bei denen sie damals noch wohnte. Denen hätte er sich, wie er es auch bei ihr und bei allen anderen Diskobekanntschaften getan hätte, zunächst als »Roberto« vorgestellt, als einen Italiener. Er wusste, dass deutsche Mädchen und ihre Familien starke Vorbehalte gegenüber türkischen oder kurdischen jungen Männern hatten. Sonst aber sei er ihr gegenüber völlig offen gewesen, so offen wie noch nie zuvor einem anderen Menschen gegenüber. Zwischen ihnen hätte völliges Einverständnis geherrscht, jeder hätte sofort gespürt, wenn der andere Kummer, Sorgen oder auch nur ein kleines Alltagsproblem hatte. Erst nach drei oder vier
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