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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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Kind wild um sich und warf das Mobiliar im Krankenhauswartezimmer um. Bereits als der Krankenwagen gekommen war, hatte sie einen Nachbarn, der beim Sirenengetön vor seine Haustür getreten war, mit den Worten: »Du Wichser, verschwinde!«, angeherrscht. Da aber alle das etwas exaltierte Wesen Josefines kannten, war dies ebenso wie ihr Benehmen im Krankenhaus auf das Konto ihres Schmerzes und ihrer Erregung über den drohenden und dann ja auch wirklich eingetretenen Verlust der Mutter verbucht worden, zumal Josefine sich in den Tagen und Wochen danach wieder völlig beruhigte. Mitte Januar 1996 ging sie wieder zur Schule.
    Einen Monat später, im Februar, erzählte Josefine einer Klassenkameradin, sie hätte gerade einem Jungen, der sie geärgert hätte, in einer Zeremonie schwarzer Magie den Tod herbeibeschworen. Wenn das nicht funktionieren sollte, hätte sie zu Hause noch eine Säure, mittels derer sie ihn vergiften könne. Sie sei dazu durchaus imstande, denn sie hätte schon jemandem Gift gegeben. Einer anderen Klassenkameradin erzählte sie, dass sie vielleicht versehentlich ihre Mutter vergiftet hätte. Beide Klassenkameradinnen wandten sich daraufhin an die Lehrerin. Diese setzte sich mit den Eltern der Mädchen in Verbindung, von denen schließlich am 21. Februar die Polizei benachrichtigt wurde. Am 2. März wurde die Leiche von Frau Schulte exhumiert und am 5. März von der Polizei Strafanzeige wegen Verdachts eines Tötungsdeliktes erstattet.
    Der weitere Verlauf bis zum 20.9.1997, also über die nächsten anderthalb Jahre, lässt sich nur unvollkommen rekonstruieren. Kurz nach der Exhumierung hatte die Polizei bei Schultes angerufen und Josefine zu einer Vernehmung gebeten. Daraufhin berieten sich der Vater und Josefine mit dem Familienanwalt, der zugleich ein enger Freund des Vaters war. Bei diesem Gespräch gab Josefine schließlich zu, wenige Tage vor dem Tod der Mutter der Butter des ungeliebten Großvaters ein Pulver beigemischt zu haben, das sie im seit langem unbenutzten Chemielaboratorium des Vaters gefunden hatte. Auf der Flasche sei ein Totenkopf abgebildet gewesen und es habe »Gift« darauf gestanden. Der Anwalt riet daraufhin, vorläufig keinerlei Aussagen zu machen und das Ergebnis der Untersuchungen abzuwarten. Warum dieses erst anderthalb Jahre später eintraf, obwohl es sich um den Verdacht auf ein Tötungsdelikt gehandelt hat und eigentlich höchste Eile geboten war, hat sich nie aufklären lassen. Natürlich stellte sich die Frage, ob hier irgendjemand seine Beziehungen hatte spielen lassen, aber es gab keine Antwort darauf, wem das denn einen Vorteil gebracht hätte. Weil so lange Zeit nichts geschah, vermuteten Josefine und ihr Vater allerdings, dass die Sache im Sande verlaufen sei: der Vater, weil er hoffte, dass die ganze Geschichte nur der exaltierten Fantasie seiner Tochter entsprungen war, und diese, weil sie sich noch immer einreden konnte, dass sie vielleicht doch nur ein harmloses Pulver in die großväterliche Butterdose gestreut hatte und die Mutter eines natürlichen Todes gestorben war. Aber am 20.9.1997 erging dann - von niemandem mehr erwartet - ein Haftbefehl gegen Josefine, nachdem die Untersuchung der über achtzehn Monate konservierten Leichenteile sehr große, hochtoxische Mengen von Arsenik zutage gefördert hatte. Das Mädchen, mittlerweile siebzehneinhalb Jahre alt geworden, wurde zur Untersuchungshaft in ein ländliches Frauengefängnis verbracht und ich mit der Erstattung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit und zur strafrechtlichen Reife beauftragt.
    Ich hatte erst nach langem Zögern diesen Auftrag übernommen, war ich doch kein Kinder- und Jugendpsychiater. Aber da Josefine inzwischen fast achtzehn Jahre alt war und mich die Kammervorsitzende, der Staatsanwalt und der Verteidiger einhellig darum baten, hatte ich unter dem Vorbehalt zugestimmt, dass die in Jugendsachen sehr erfahrene Psychologin, mit der ich seit vielen Jahren zusammenarbeitete, mit einem Zusatzgutachten beauftragt wurde und außerdem ein Jugendpsychiater zu Rate gezogen werden sollte, wenn ich das Gefühl bekäme, nicht mehr zurande zu kommen. Letzteres erwies sich dann doch nicht als notwendig.
    Josefine war ein kleines, gut gewachsenes Mädchen mit langen blauschwarz gefärbten Haaren, spitz zulaufenden Fingernägeln und vielen Aknenarben in einem ansonsten wohl komponierten Gesicht, das von sehr wach um sich blickenden Augen beherrscht wurde. Über die Schüchternheit der anfänglichen

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