Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Solidarität habe darunter aber nicht gelitten, auch wenn es gelegentlich mit der älteren Schwester etwas Streit gab oder sie sich mit Niklas ab und zu prügelte. Claudette und Niklas wurden sogar in mancher Hinsicht Vorbilder für sie, als sie etwas älter wurde. Der Vater und der Bruder Niklas, mit dem ich kurz nach meinem ersten Treffen mit Josefine ein langes Gespräch führte, bestätigten im Großen und Ganzen ihre Darstellung der Kindheitsjahre, Niklas fügte allerdings hinzu, dass seine kleine Schwester es immer, auch schon als ganz kleines Mädchen, fertig gebracht hätte, durch heftige Wutanfälle und wildes Schreien ihren Willen bei den Eltern durchzusetzen.
Mit zwölf, dreizehn Jahren verdunkelte sich allerdings dies eher sonnig gezeichnete Bild. Josefine, bis dahin ein niedliches Kind, bekam überall im Gesicht Aknepickel. Die Mitschüler und Mitschülerinnen hänselten sie deswegen, sie fühlte sich hässlich und ungeliebt. Ihre Busenfreundin aus den ersten sieben Schulklassen, Tamara, ging auf eine andere Schule, zu ihrer einzigen Vertrauten wurde nun die Mutter. Ansonsten beschäftigte sie sich gerne mit Musik. Dem Vorbild ihres Bruders folgend schrieb und vertonte sie Folk-Songs, die eine Lehrerin, der sie sie zeigte, so gut fand, dass sie ihr riet, damit an die Öffentlichkeit zu treten: vielleicht aus Überzeugung, vielleicht aber auch, weil sie Josefines Selbstvertrauen stärken wollte. Die traute sich aber nicht zu, einen solchen Schritt zu gehen. Als der Bruder sich einer anderen Musikrichtung, dem »Heavy Metal«, zuwandte, folgte Josefine ihm für eine Weile auch dorthin, spürte aber, dass diese ihren Gefühlsströmungen nicht entsprach, und landete schließlich bei den »Gothics«, einer depressiven, todessehnsüchtigen Musik, von der fließende Übergänge zu verschiedenen okkulten Beschwörungsritualen hinführten. Um diese Zeit, vielleicht ein Jahr vor dem Tode der Mutter, begann sie damit, sich die Haare blauschwarz zu färben, das Gesicht weiß zu pudern und sich schwarz anzuziehen. Das führte dazu, dass die Mitschüler sich nun nicht mehr nur wegen ihrer Pickel, sondern auch wegen ihres exzentrischen Outfits über sie lustig machten und sie sich noch einsamer fühlte. Als Antwort auf die Hänseleien drohte sie nun damit, sich mittels Zaubersprüchen und Hexenritualen blutig zu rächen.
Aber auch zu Hause gab es nun zunehmend Probleme: wegen ihrer Aufmachung, aber auch, weil sie immer häufiger während der Schulzeit zu Konzerten ihrer Lieblingsgruppen quer durch Deutschland fahren wollte. Sie war zu einem regelrechten »Groupie« geworden, litt aber darunter, dass die Stars nach den Konzerten zwar mit ihr manchmal ein paar freundliche Worte wechselten, dann aber zu ihren »tollen Frauen« zurückkehrten und sie nicht mehr beachteten. Aus Kummer trank sie sich dann gelegentlich einen an. Als die Eltern sahen, dass Verbote nichts fruchteten - eine Klassenkameradin, bei der sie angeblich übernachtete, fand sich immer -, ließen sie diese Reisen zu, allerdings unter der Bedingung, dass der Vater sie von den Konzerten abholte, manchmal über hunderte von Kilometern. Das ersparte ihr häuslichen Ärger, beschnitt aber auch ihre Möglichkeiten, nach den Konzerten Kontakt zu den Stars aufzunehmen. So war ihr, wenn sie wieder zu Hause war, oft hundeelend zumute und sie begann damit, sich die Unterarme mit Rasierklingen aufzuritzen. Wenn sie das Blut fließen sah, verspürte sie eine riesige Erleichterung, die allerdings nicht lange anhielt. Die Eltern bemerkten die Blutflecken und später die Narben zwar, ordneten die ganze Sache aber als pubertäres Entwicklungsproblem ein.
Ein weiteres Problem bildete das Reiten. Josefine war in die Fußstapfen ihrer älteren Schwester Claudette getreten, der die Großeltern auf ihrem Bauernhof ein Pferd bereitgestellt hatten, mit dem sie schon mehrere Turniere gewonnen hatte. Als Claudette nach ihrer Eheschließung nicht mehr weiter reiten wollte, hatte Josefine ihr Pferd übernommen. Sie war aber nicht an Turnieren, sondern nur am Reiten interessiert, zum Leidwesen des Großvaters, eines cholerischen und sehr eigenwilligen Mannes, der sie mit Drohungen, das Pferd sonst zum Schlachter zu bringen, zu regelmäßigen Übungen zwecks einer Turniervorbereitung zu zwingen versuchte. Die Eltern, vor allem aber die Mutter, überredeten Josefine, sich den Wünschen des Opas zu fügen, was diese auch tat, wie sie mir sagte, weil sie mehrfach Szenen beobachtet
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