Das Unglück der kleinen Giftmischerin
ein gefährlicher Täter, bei ähnlichen Konstellationen seien Gewalttaten bis hin zu Tötungen nicht auszuschließen, wenn er in ein paar Jahren wieder in Freiheit sei. Er bedürfe dringend einer therapeutischen Bearbeitung seiner Gewaltbereitschaft.
Das Gericht entschied gegen mein Votum, wohl aus berechtigter Sorge, eine Revision des BGH könnte sonst das Urteil kippen. Es verurteilte Yüllan, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, als Erwachsenen wegen zweifachen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren, aber eben nicht zu einer lebenslänglichen Strafe. Die junge, sehr kompetente Staatsanwältin hatte es sich dabei nicht leicht gemacht. Sie hatte einen Kompromiss gefunden, der die neue höchstrichterliche Rechtsprechung wenigstens abmilderte. Bei der letzten Sitzungspause vor dem Urteil sah ich sie weinen, weil sie einen so jungen Menschen für eine so lange Zeit ins Gefängnis und eine unsichere Zukunft schicken musste. Yüllan aber schrie, als er das Urteil hörte, er werde sich blutig an allen hier Anwesenden rächen.
Habe ich mich, hat das Gericht sich hier richtig entschieden? Bei kaum einer anderen Begutachtung hatte ich mir so viel Skrupel gemacht, war es doch meine grundlegende Überzeugung, der Modeströmung entgegensteuern zu müssen, die die gesellschaftlichen Außenseiter für ihr Schicksal und ihre Taten allein verantwortlich zu machen sucht und so die Gesellschaft, ihre Geschichte und die sie beherrschenden Prinzipien von Schuld freispricht. Das populistische BGH-Urteil musste ich von innen aufbrechen und hatte dafür auch Argumente gefunden. Aber wenn bei Yüllan das Jugendrecht Anwendung gefunden hätte, so wäre er in spätestens fünf Jahren, als Erstverurteilter vielleicht schon nach drei wieder auf freiem Fuß gewesen, voraussichtlich ohne jede wirksame Therapie. Die Schwere seiner Tat wäre ihm bei einem solchen Urteil gar nicht deutlich geworden, er hätte sich immer noch vorgaukeln können, dass er, nach seinen eigenen Grundsätzen, richtig gehandelt und einen durchaus erträglichen Preis dafür gezahlt habe. Bei seiner Gewaltbereitschaft wäre die nächste Tat dann schon abzusehen.
Ich wusste, dass ich mit meiner Empfehlung, das Jugendrecht anzuwenden, ein hohes Risiko einging, aber Yüllan als psychisch krank in eine forensische Abteilung der Psychiatrie schicken konnte ich auch nicht, hatte ich doch mein Lebtag lang gegen eine Psychiatrisierung sozialer Schädigungen und charakterlicher Defizite gekämpft. Insofern war ich mit dem Urteil des Gerichts sehr einverstanden: Es hatte zwar gegen mein Votum die Anwendung von Jugendrecht abgelehnt, doch gleichzeitig hatte es meine kultur- und entwicklungspsychologischen Analysen berücksichtigt und sichergestellt, dass Yüllan bei seiner Entlassung noch jung genug sein würde, um ein neues Leben beginnen zu können. Es hatte zudem eine Bearbeitung seiner Gewaltbereitschaft auf einer sozialtherapeutischen Abteilung einer JVA angeregt. Wahrscheinlich war dies die weiseste Entscheidung, die die Richter unter diesen schwierigen Umständen treffen konnten, und ich war ihnen dankbar dafür. Vielleicht auch ein bisschen dafür, dass ich Yüllans Rache für die nächsten zehn Jahre nun nicht fürchten musste.
Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Am 10. Dezember 1995 verstarb in einer mittelgroßen süddeutschen Stadt, völlig unerwartet für ihre Familie, die Hausfrau und Fahrlehrersgattin Bärbel Schulte. Nach zwei Tagen Brechdurchfall und Magenkrämpfen, Ausbrüchen kalten Schweißes und Schwächegefühlen hatte sie das Bewusstsein verloren und war mit Blaulicht und Sirene auf die Intensivstation des städtischen Krankenhauses gebracht worden, wo es jedoch für jegliche therapeutische Hilfe zu spät war. Da schon seit Jahren Episoden mit Magenkrämpfen und Durchfall aufgetreten waren und bei der Krankenhaussektion keine auf einen unnatürlichen Tod hindeutenden Anzeichen gefunden wurden, nahmen die Ärzte ein Herz-und Kreislaufversagen bei durchfallbedingtem Flüssigkeitsmangel als Todesursache an und die Verstorbene wurde bestattet. Die Familie zeigte in diesen Tagen eine durchaus angemessene, wenn auch angesichts der Plötzlichkeit der Ereignisse bestürzte Trauer. Nur die fünfzehnjährige Tochter Josefine fiel etwas aus dem Rahmen. Sie hatte, schon als der Notarzt gekommen war, weinend erkärt, wenn der Mutter etwas passiere, so werde sie sich umbringen. Und als die Mutter dann wirklich starb, schlug sie wie ein kleines
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