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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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Minuten kam sie schon nach dem ersten freundlichen Zuspruch hinweg. Sie erzählte mir ganz offenherzig ihre bisherige Lebensgeschichte, was sie zu ihrer Tat veranlasst hatte und was sie empfunden hatte während der Tage, in denen die Mutter schlimmste Schmerzen gelitten hatte und schließlich gestorben war. Diese naiv, ja manchmal noch sehr kindlich anmutende Offenheit war es allerdings auch, die mich für einen Augenblick innehalten ließ: So ganz passte sie mit dem aufmerksam beobachtenden, wendigen Blick der anthrazitfarbenen Augen nicht zusammen. Aber schon nach wenigen Minuten vergaß ich diese kleine Unstimmigkeit und vor mir saß wieder ein kleines, schutzbedürftiges Mädchen, das ich gerne unter meine Fittiche genommen hätte, wenn dies meine Rolle als Gutachter nicht verboten hätte.
    So hörte ich einfach aufmerksam zu. Aus Josefines Erzählungen schälte sich eine zunächst ziemlich normal anmutende Lebensgeschichte heraus, mit den üblichen Spannungen und kleinen Konflikten zwischen den Geschwistern, den Generationen und den Herkunftsfamilien. Der Vater, ausgebildet als Chemielaborant, übernahm 1988 von seinem Vater eine Fahrschule, in der er seither als viel beschäftigter und renommierter Fahrlehrer tätig war, während die Mutter, gelernte Friseuse, stundenweise bei der Terminplanung und der Buchhaltung mithalf, in erster Linie aber für den Haushalt und die Kindererziehung verantwortlich zeichnete. Josefine war das Nesthäkchen. Sie hatte noch zwei ältere Geschwister: die neun Jahre ältere, zur Tatzeit bereits verheiratete Claudette und den um vier Jahre älteren Niklas, der noch im elterlichen Hause lebte, aber als die Mutter starb, auch schon eine feste Freundin hatte. Sowohl aus Josefines Erzählungen als auch aus dem Bericht der Jugendgerichtshilfe ergab sich, dass der Vater in das Erziehungsgeschehen nur insofern einbezogen war, als er im Auftrag der Mutter manchmal ein Machtwort zu sprechen hatte, ansonsten aber fast alles der Mutter überließ. Er war der Außenminister der Familie, der für das Einkommen zu sorgen hatte, die Mutter war für die häuslichen Verhältnisse zuständig: für den Haushalt, die Kinder und die Aufrechterhaltung der Verwandtschaftsbeziehungen. Die Bindungen der Geschwister an die Eltern waren unterschiedlich: Während Claudette Vaters Liebling war, fühlte Josefine sich sehr eng mit ihrer Mutter verbunden. Die besondere Liebe des Bruders neigte hingegen mal der Mutter, mal dem Vater zu.
    Außerdem gab es noch, wenigstens in Josefines frühen Kindheitsjahren, alle vier Großeltern. Der Opa väterlicherseits, aus Brandenburg stammend und ursprünglich Bäcker, hatte nach seiner Übersiedlung in den Westen die Fahrschule gegründet und sie später seinem Sohn, Josefines Vater, vererbt. Josefine erinnerte sich noch, dass dieser Opa um diese Zeit für eine Weile nicht mehr zu Besuch gekommen war, wusste aber nicht weshalb. Darüber sei zu Hause nicht gesprochen worden. Nach einiger Zeit tauchte er aber zu Geburtstagen und Festen mit der Oma wieder auf, und sie ging in der Folgezeit oft nachmittags zu ihnen hinüber, sie wohnten nur zehn Minuten vom Elternhaus entfernt. Mit 82 Jahren war der Opa ganz friedlich in seinem Fernsehsessel eingeschlafen, und die Oma starb ungefähr um die gleiche Zeit an einem Schlaganfall. An beide Beerdigungen erinnerte Josefine sich noch gut. Sie hatte die beiden gemocht, auch wenn die Großeltern väterlicherseits im Gefühlshaushalt der Schulte-Kinder offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle gegenüber den Großeltern mütterlicherseits spielten. Die wohnten auf dem Lande und hatten einen Bauernhof und einen Reitstall, so dass Ferien und Besuche dort, jedenfalls während Josefines frühen Kinderjahren, ein regelrechtes Abenteuer waren. Vor allem von der Oma mütterlicherseits wurde sie sehr verwöhnt. Als sie etwas älter wurde, bekam sie allerdings mit, dass beide tranken und der Opa die Oma schlug. Als die Oma starb und der Opa sich eine Freundin zulegte, fuhr sie nicht mehr so gerne dorthin. Trotz dieser Spannungen berichtete Josefine über eine bis zu dem Beginn ihrer Pubertät eher glückliche und behütete Kindheit, in der es auch an körperlichen Zärtlichkeiten nicht gefehlt hatte. Als Nesthäkchen bekam sie überdies von den Eltern nach ihren eigenen Erzählungen, anders als ihre Geschwister, alle materiellen Wünsche sofort erfüllt, sie kriegte, wie sie sagte, alles »in den Arsch gesteckt«. Die geschwisterliche

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