Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Letzteren werde dann das Gewissen - psychiatrisch gesprochen, das Über-Ich - bestimmt. Gerade wenn diese traditionellen Ehr- und Moralbegriffe und Verhaltensmuster gefährdet erscheinen, werde besonders hartnäckig und starr an ihnen festgehalten, auch dann noch, wenn sie einen Großteil ihrer sozialen Funktionalität schon lange verloren haben, wie das nicht selten in einem Einwanderungsland geschieht. Die althergebrachten Sitten dienen dann fast nur noch dem als gefährdet erlebten Zusammenhalt der Gruppe, ohne dass sie noch viel dazu beitragen könnten, ihr tatsächliches Zusammenleben regeln zu helfen.
Rechts- und Unrechtsbewusstsein der Ethnie, der Gruppe, des Familienverbandes bekämen unter solchen Bedingungen ein größeres emotionales Gewicht als die staatlichen Ordnungen und deren gesetzliche Normen, das Vertrauen auf individuelle oder gruppenbezogene Gewalt überwiege gegenüber dem Vertrauen auf die staatliche Macht. So entstehe eine soziokulturell bedingte Anfälligkeit Gewalt anzudrohen und Gewalt anzuwenden, die beim Einzelnen, je nach seinen individuellen Erfahrungen, natürlich mehr oder weniger stark ausgeprägt sein könne. Sie bilde so etwas wie einen Erlebnishintergrund, der auf aktuelle, emotional geladene Situationen ein verstärkendes Echo geben kann. Dieser Erlebnishintergrund werde auch der jüngeren Generation, die hauptsächlich im Einwanderungsland aufgewachsen sei, von den Eltern und den älteren Familienangehörigen und deren Freunden und Bekannten weitergegeben. Selbst wenn ein Jugendlicher sich von den kulturellen Traditionen und Ehrbegriffen seiner Familie und seiner Ethnie abwendet und sich fast wie ein Deutscher fühlt und benimmt, wenn er also perfekt »integriert« erscheint, werde es in den allermeisten Fällen Situationen geben, in denen diese Traditionen wieder ihr Recht einfordern - oft seien das persönliche Krisensituationen. Nicht selten werden dann auch Schuldgefühle wach, die Lehren der Eltern missachtet und die von ihnen mitgegebenen Traditionen und damit die eigene Kultur verraten zu haben. So könne ein tiefer Zwiespalt entstehen, ein Hin und Her zwischen zwei Kulturen, das anstelle einer eigenen kulturellen Identität manchmal nur eine Leerstelle zurücklässt, die als qualvoll und unentrinnbar erlebt werde. Diese Identitätskonflikte, verbunden mit der Erfahrung soziokulturell legitimierter individueller oder Gruppengewalt, drücken sich auch aus in der erhöhten Gewalt- und Kriminalitätsrate von Jugendlichen und Heranwachsenden, die Ethnien ohne einen vertrauensbildenden eigenen Staat entstammen.
In einer solchen spannungsgeladenen Situation, wie ich sie dem Gericht schilderte, war auch Yüllan aufgewachsen. Kompliziert wurde seine Situation noch dadurch, dass er Jeside war, also innerhalb der kurdischen Minderheit noch einer von deren Mehrheit verfolgten Subminorität angehörte. Ich schilderte ihre Diskriminierung und Verfolgung, aber auch ihr feudales Herrschafts- und Klientensystem, die daraus abgeleiteten Ansprüche einer Scheichfamilie, ihre Ehr- und Moralbegriffe, ihre Vorstellungen über die Beziehungen der Geschlechter, ihre aus all dem erwachsene soziokulturelle Anfälligkeit für Gewalt.
Die Gewalt, die Yüllan von seinen Eltern und Brüdern erfahren hatte, ging aber über diese Anfälligkeit noch weit hinaus, wie die Berichte des Jugendamtes bezeugten. Yüllan bekam Gewaltandrohung und Gewaltanwendung von frühester Kindheit an zu spüren, und diese familiäre Gewalt fand in der kollektiven soziokulturellen Hintergrunderfahrung der Legitimierung von individueller und Gruppengewalt zur Durchsetzung der eigenen Rechte ein verstärkendes Echo. Bis er Lisa kennen lernte, war er überall, zu Hause, in der Nachbarschaft wie in der Schule, als Schläger auffällig geworden. Danach war es ihm gelungen, diese Neigung unter Kontrolle zu halten, wobei ihm sein Türsteherjob die Gelegenheit geboten hatte, sie als »Rausschmeißer« auch beruflich legitimiert ein Stück weit auszuleben. Als seine Beziehung zu Lisa in eine Krise geriet, so erklärte ich es dem Gericht, brach seine Neigung zur Gewalt wieder durch. Aber auch die traditionellen, archaischen Vorstellungen, wonach die Frau für immer Eigentum des Mannes bleibt, der sie defloriert hat, verlangten nun auf einmal ihr Recht. Zuerst versuchte Yüllan durch Drohungen und Schläge seinen Willen bei Lisa durchzusetzen und über längere Zeit gelang ihm dies auch. Als Lisa sich jedoch endgültig von ihm
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