Das Unglück der kleinen Giftmischerin
getrennt hatte und seine Drohungen nichts mehr fruchteten, als also sein »Knüppel aus dem Sack «-Prinzip nicht mehr funktionierte und sie sich ihm versagte, blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als mit seinem Ersatzschwanz, seiner Pistole, in sie einzudringen, und das brachte ihr den Tod.
Diese dramaturgische Folgerichtigkeit bedeutete aber nicht, dass Yüllan im Sinne des Strafgesetzes unfähig war, anders zu handeln, als er es getan hatte, oder dass diese Fähigkeit auch nur »erheblich vermindert« war. Er hatte alles genau geplant, sich eine Pistole gekauft und war mit ihr in die Arztpraxis gegangen, um Lisa zu bedrohen. Dort mag er durch ihre Antworten noch weiter in Wut geraten sein. Tatsache war, er hatte beide Frauen bis in den Injektionsraum verfolgt und dort gezielt erschossen, danach war er, genauso zielgerichtet, wieder weggefahren. Für eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung auf dem Boden einer Affekttat reichte das alles nicht, das meiste daran widersprach dem sogar. Ich musste Yüllan also für strafrechtlich voll verantwortlich erklären.
Für seine Zukunft wichtiger als diese Frage war allerdings eine andere: ob er als Heranwachsender einem Jugendlichen gleichgestellt werden konnte. Bejahendenfalls betrug, auch bei Annahme eines Mordes, die Höchststrafe für ihn zehn Jahre, verneinendenfalls drohte lebenslänglich.
Hier nun hatte Yüllan das Pech, in einen juristischen Schulen-streit zu geraten. Während in den letzten drei Jahrzehnten die Gutachter bei nachweisbaren Reifedefiziten in über 80 % der Fälle meist umstandslos eine Gleichstellung von Heranwachsenden mit Jugendlichen empfohlen hatten und die Gerichte dem gefolgt waren, wehte im Strafrecht und in der öffentlichen Meinung über Jugendkriminalität nun jedoch ein anderer, schärferer Wind. Der Bundesgerichtshof, inzwischen mit konservativeren, straffreudigeren Richtern besetzt als in den Siebziger- und Achtzigerjahren, hatte gerade die Gleichstellung von Heranwachsenden mit Jugendlichen aufgrund von Reifedefiziten radikal eingeschränkt, indem er eine Prüfung daraufhin anordnete, ob es sich bei den festgestellten Reifedefiziten um Mängel handelte, die durch spontane Nachreifung oder einfache pädagogische Maßnahmen behebbar, oder aber um Mängel, die bereits zu »fixierten Verhaltensdispositionen« geworden, also unbeeinflussbar seien. Nur die Ersteren berechtigten dem BGH zufolge zu einer Gleichstellung. Ich war empört ob dieser jesuitischen Spitzfindigkeit, die mehr dazu diente, der populistischen Kampagne der Medien und der Politiker gegen junge Straftäter und für eine generelle Verschärfung des Strafrechtes ein höchstrichterliches Echo zu geben, als uns Sachverständigen handhabbare Entscheidungshilfen zur Verfügung zu stellen. Aber wie sollte ich nun argumentieren?
Glücklicherweise hatte das BGH-Urteil, allerdings höchst gewunden und gequetscht, bei Annahme von unbehebbaren Reifedefiziten einen besonders hohen Gewissheitsgrad dieser Erkenntnis verlangt. Frech folgerte ich nun, um die verlangte Unterscheidung mit der im Strafrecht erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, also juristisch gesprochen, zweifelsfrei vornehmen zu können, bedürfte der Sachverständige prophetischer Fähigkeiten: Er müsse wie ein Seher der Antike die Zukunft erkennen können, ob nun mit Hilfe des Vogelfluges, des Kaffeesatzes oder lediglich aufgrund seiner angeborenen hellseherischen Gaben. Außer bei organisch bedingten Intelligenzmängeln könne nämlich sonst niemand mit hinreichender Sicherheit Voraussagen, ob nicht auch schwere Reifungsdefizite sich durch das Leben selbst, etwa durch eine glückliche Begegnung, ein Stück weit ausgleichen lassen. Nur eine größere oder kleinere Wahrscheinlichkeit dafür oder dagegen lasse sich für die Zukunft einigermaßen begründet Vorhersagen. Durch sie werde aber der Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« nicht ausgehebelt: Auch bei einer größeren Wahrscheinlichkeit für »unbehebbare« Reifungsdefizite müsse diesem Grundsatz zufolge Jugendrecht angewendet werden. »Unbehebbare« Reifedefizite im Sinne des BGH-Urteils seien bei Yüllan bei Betrachtung seiner bisherigen Lebensgeschichte zwar etwas wahrscheinlicher als behebbare, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit könne man dies nicht feststellen. Daher müsse ich dem Gericht, wenn es meine grundsätzlichen Überlegungen teile, die Anwendung des Jugendstrafrechts empfehlen. Allerdings sei Yüllan
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