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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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Der Opa hätte einen Zettel hinterlassen mit der Information, er sei zu seiner neuen Freundin gefahren, sie solle sich das Pferd holen und sich ein, zwei Stunden auf das bevorstehende Turnier vorbereiten. Sie aber hätte des Opas Abwesenheit ausgenutzt und sei einfach spazieren geritten. Als sie zum Stall zurückkehrte, traf sie auf die Mutter, die sie abholen gekommen war. Josefine bat diese, fünf Minuten im Hause zu warten, bis sie das Pferd versorgt hätte. Als sie die Küche betrat, sah sie mit Schrecken, wie die Mutter in ein dick beschmiertes Butterbrot hineinbiss. Sie hätte geschrien: »Was machst du da?« Die Mutter habe zurückgeschrien und sich einen solchen Ton verbeten. Daraufhin hätte sie nichts mehr zu sagen gewusst. Sie sei völlig blockiert gewesen. Einerseits hätte sie gewusst: Ich muss ihr das sagen! Andererseits hätte sie gefürchtet, dass die Eltern sie in ein Heim stecken würden, wenn sie zugäbe, die Butter des Opas vergiftet zu haben. Diese Angst war schließlich stärker, zumal der vergiftete Kaffee dem Opa nicht geschadet hatte und sie so hoffen konnte, auch die Mutter werde ungeschoren davonkommen. Und zunächst geschah ja auch nichts. Erst als die Mutter beim abendlichen Fernsehfilm brechen musste, hätte sie gewusst, dass dies von der Butter käme. Aber immer noch nicht hätte sie sich getraut, etwas zu sagen. Immer noch hätte sie gehofft, es werde der Mutter am nächsten Morgen schon besser gehen. Und ich sagte mir, dass dies gar nicht so absurd war, da auch ich, als mein Vater nach einer Operation im Sterben lag, am Abend vor einem unruhigen Schlaf gegen alle Vernunft gehofft hatte, am nächsten Morgen sei der Alptraum vorbei.
    Der Mutter ging es in den nächsten anderthalb Tagen immer schlechter, was Josefine aber nicht genau mitbekam, weil sie in der Zeit an einem Reitturnier teilnahm. Am Freitagmittag hatte die Mutter das fatale Butterbrot gegessen. Am Sonntagmittag verlor sie das Bewusstsein und wurde in die Klinik gebracht, zwei Stunden später war sie tot. Josefine sagte, dass sie in den Tagen danach nur noch sterben wollte. Die letzten Lebenstage der Mutter schilderte sie mir unter Tränen.
    Schon kurz nach dem Tode der Mutter gab der Vater deren Kleider und Wäsche einem Secondhandshop. In den ersten Wochen schlief Josefine noch neben ihm. Wenig später hatte er eine sehr junge Freundin, bei der er sich nach einiger Zeit auch einquartierte. Niklas und Josefine blieben allein in der elterlichen Wohnung zurück. Des Vaters Freundin sei eigentlich ganz nett, sagte Josefine, aber dass der Vater mit ihr die Erinnerung an die Mutter auszulöschen versuche, das könne sie nicht ertragen. Danach hatte sie sich allerdings erstaunlich schnell wieder erholt. Ihre Schulleistungen wurden besser, im Juni 1996 machte sie ihren Realschulabschluss, im September begann sie mit einer Dolmetscherschule, in der sie auch recht erfolgreich war. Nach wie vor verfasste sie Liedertexte und Musikstücke, und sie ging auch weiterhin auf Konzerte. Mit sechzehneinhalb schlief sie zum ersten Mal mit einem Jungen, beide besoffenen Kopfes, wie sie sagte, sie wollte ihn danach nicht wieder sehen. Einige andere intime Kontakte schlossen sich an, die Jungs seien »eigentlich alle lieb und nett« gewesen und sie hätte auch Spaß dabei gehabt, dennoch hätte sie sich anschließend von ihnen getrennt. Eine heimliche Liebe hegte sie zu einem Freund ihres Bruders, aber der machte nie einen Annäherungsversuch und sie traute sich nicht. Wenn sie besonders unglücklich war, ritzte sie sich wieder einmal ihren Unterarm auf. So gingen die Tage bis zu ihrer Verhaftung dahin.
    Wenige Tage nach dem Besuch in der Haftanstalt, in der Josefine einsaß, hatte ich das schon erwähnte Gespräch mit ihrem Vater und mit ihrem Bruder. Es dauerte sechs Stunden und fand in meinem Arbeitszimmer statt, einem kleinen Mansardenraum. Frau Dr. Müller, meine jugendpsychologisch erfahrene Mitarbeiterin, die inzwischen Josefine auch kennen gelernt hatte, war ebenfalls zugegen. Sehr viel Neues über Josefine und über ihre Beziehung zum Großvater und zur Mutter erfuhren wir dabei nicht. Ja, der Opa war wirklich äußerst launisch und cholerisch, er duldete keinerlei Widerspruch, als Kind hätte Josefines Mutter tatsächlich viel von ihm ausstehen müssen und sei auch noch bis ins Jugendlichenalter bei nichtigen Anlässen von ihm geschlagen worden. Der Vater sagte, er hätte seiner Frau mehrfach empfohlen, den so unerfreulichen Kontakt

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