Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
Vom Netzwerk:
zum Opa doch abzubrechen, aber die hätte sich von einer inneren Abhängigkeit diesem gegenüber wohl nie ganz lösen können. In den letzten Jahren hätte sich die Situation eher noch verschärft. So konnte ich mir nach diesen Äußerungen gut vorstellen, dass Josefines Zorn über den Opa in der Familie ein lebhaftes Echo gefunden hatte und dadurch noch weiter angeschwollen war.
    Die Mutter erschien in den Schilderungen ihres Mannes und ihres Sohnes als eine wenig selbstbewusste Frau, die sich sogar der Liebe ihrer Kinder nicht sicher war und die sich von der häuslichen und erzieherischen Alleinverantwortung, die ihr Ehemann ihr zunehmend überlassen hatte, überfordert fühlte. Manchmal kam sie ihrem Sohn Niklas gar nicht wie Josefines Mutter vor, sondern eher wie deren Schwester. Die sehr enge Beziehung Josefines zu ihr wurde vom Vater wie vom Bruder bestätigt, ebenso wie Josefines Verzweiflung, als die Mutter starb. Beide wunderten sich allerdings auch etwas darüber, dass sie verhältnismäßig schnell darüber hinweggekommen war und sich bald schon wieder ihren Stars, deren Konzerten, ihrer Musik und ihren okkulten »Spinnereien« zugewandt hatte.
    Dies alles ergab ein geschlossenes, eindeutiges Bild der familiären Situation, für mein Gefühl vielleicht ein allzu klares - so als ob diese Einhelligkeit dazu dienen sollte, irgendein Familiengeheimnis, hinter das niemand kommen sollte, zu verbergen. Mich störte auch die leicht kaltschnäuzige Art, in der Vater und Sohn sich ausdrückten: Viel Sympathie für Josefine war da nicht herauszuhören. Verständlich einerseits, weil sie am Tode der Mutter ja schuld war, auch wenn sie ihn nicht beabsichtigt hatte, aber ich bemerkte auch nichts von einer Zwiespältigkeit, die trotz alledem auf eine enge Bindung zu ihr hingewiesen hätte. Sie redeten über sie eher wie über eine Sache oder einen Beobachtungsgegenstand. Und vor allem der Vater tat sich mit Redewendungen hervor, die er wohl aus seiner Bundeswehrzeit mitgebracht hatte, wie »Da habe ich sie auf den Pott gesetzt«, wenn er sagen wollte, dass er sie gezwungen hatte, über eine kleine Dummheit die Wahrheit zu sagen.
    Für Josefine tat mir das leid. Aber ich durfte mich nicht von meinen Sympathiegefühlen leiten lassen, als Gutachter hatte ich zuerst die Frage nach Josefines Schuldfähigkeit zu klären. Weder eine hirnorganisch bedingte noch eine beginnende schizophrene Störung konnte ich bei ihr ausmachen. Für ein akutes Wahnbild zum Tatzeitpunkt sprach nichts, und eine schleichende Entwicklung hätte in den zwei Jahren, die seither verflossen waren, klar erkennbar sein müssen. Aber weder eine Denkstörung noch eine Abstumpfung des Gefühlslebens hatten sich bei ihr eingestellt.
    Allerdings befand sich Josefine zum Tatzeitpunkt in einem für sie sehr schwierigen Identitätsfindungsprozess. Sie hatte sich bei den Konzerten als Engländerin oder Holländerin ausgegeben. Mit ihrem okkulten Outfit versuchte sie sich selbst auf der Scheidelinie zwischen Leben und Tod zu platzieren, mit ihrem Groupie-Dasein teilzuhaben am Ansehen und am Ruhm der Stars - und zugleich Distanz von der kleinbürgerlichen Existenzform der Eltern zu gewinnen. Doch all dies konnte noch als pubertäre Identitätskrise eines schüchternen, selbstunsicheren, aber gleichzeitig von einer geballten inneren Kraft erfüllten Mädchens gewertet werden. Eindeutig darüber hinaus gingen allerdings die Selbstverletzungen durch das Ritzen, die keinen demonstrativen Charakter hatten, sondern die Funktion, sie fühlen zu lassen, dass sie wirklich existierte. Dieses Merkmal wies schon in Richtung einer Borderline-Störung und gab mir die Möglichkeit, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht auszuschließen.
    Gruppierte man die anderen Auffälligkeiten um die Selbstverletzungen, so ergab sich allerdings auch ein Syndrom, das häufig bei Jugendlichen gefunden wird, die in der Kindheit misshandelt oder sexuell missbraucht worden sind. Diesen Sachverhalt teilte ich dem Gericht mit, musste aber hinzufügen, dass sowohl Josefine als auch ihr Bruder und ihr Vater sagten, zu Misshandlungen oder Missbrauch sei es in der Familie und auch sonst wo niemals gekommen. Niklas sagte sogar, er hätte gehofft, dass der Opa so etwas getan hätte, dann wäre ihm Josefines Tat weniger unverständlich vorgekommen. Dennoch ließ mich der Verdacht auf ein derartiges Familiengeheimnis nicht los. Sollte Josefines Mutter irgendwann einmal von ihrem Vater

Weitere Kostenlose Bücher