Das Unglück der kleinen Giftmischerin
So verbrachte der kleine Friedhelm einen guten Teil seiner ersten Lebensjahre auf der Autobahn. Der »verständnisvolle« Vater erwies sich des Weiteren als ziemlich jähzornig, oft rutschte ihm die Hand aus, und wenn er die Kinder geschlagen hatte, zog er sich zurück und weinte über sich selbst und seine Unbeherrschtheit. Betrunken sei er nach dem Führerscheinentzug nie wieder gewesen, aber man sagte ihm nach, dass er an seinem Arbeitsort, der Waldschule, Frauengeschichten gehabt hätte. Dadurch wiederum war die Mutter zum Alkohol und schließlich in die Trunksucht getrieben worden. Sie hätte im Übrigen etwas »Vergewaltigendes« an sich gehabt, die Kinder selbst noch in der Pubertät umarmt und geküsst, auch wenn diese das gar nicht wollten. Über die beiden zwei bzw. vier Jahre jüngeren Brüder ließ sich nur erfahren, dass er »ganz normal« mit ihnen gespielt hätte.
Als er vierzehn wurde, seien sieben Pflegekinder ins Haus gekommen. Friedhelm Luft wusste nicht zu sagen, ob aus Nächstenliebe oder um das Familienbudget aufzubessern. Zu den Eltern sagten auch sie Vati und Mutti, eifersüchtig will er deshalb aber nicht gewesen sein, der Altersunterschied war dazu zu groß. Die Pflegekinder blieben so lange, bis sie nach ihrem Schulabschluss eine Lehre mit Verpflegung und Unterkunft gefunden hatten, Friedhelm Luft lebte schon nicht mehr zu Hause, als das letzte von ihnen sein Elternhaus verließ. Schwierigkeiten hätte es mit ihnen niemals gegeben. Aus seinem Bericht gewann ich dennoch den Eindruck, dass die Nähe zu den leiblichen Geschwistern sich mit der Ankunft der Pflegekinder - alles Jungen - doch etwas verringert hatte. Was auch im Einzelnen geschehen sein mochte, deutlich wurde das Bild einer Kindheit mit vielen Verunsicherungen, einer klammernden, schließlich trunksüchtigen Mutter, einem oft abwesenden, jähzornigen, in verschiedene, ihn wohl auch überfordernde Projekte verstrickten Vater und verwaschenen Geschwisterbeziehungen - alles gravierende Probleme, die Luft bagatellisierte.
Von der Schulzeit berichtete er, dass er in der Schule zunächst gut mitkam, im siebten Schuljahr dann aber »aus Faulheit« sitzen blieb. Nun war er mit dem nächst jüngeren Bruder in einer Klasse. Er fand das toll, die geschwisterlichen Bande festigten sich wieder, und bis zum Abitur, das er mit einer Drei bestand, verlief alles in normalen Bahnen. Mit fünfzehn fand er zu seinem Lieblingshobby, dem Segelfliegen, das er bis zu seiner Verhaftung betrieb. Kurz vor seinem Abitur unterzog sein Vater ihn einem Intelligenztest. Der fiel, wie Luft mir sagte, »erschreckend hoch« aus, über 150 Punkte auf jeden Fall. Das trug ihm zunächst nur den Vorwurf ein, seine Fähigkeiten so wenig genutzt zu haben, und die Mahnung, bescheiden zu bleiben.
Lufts weiterer Lebensweg verlief dann in einer Art Pendelbewegung zwischen Leistungsstress und hedonistischer Verwahrlosung. Er begann mit einem Psychologiestudium und bestand das Vordiplom in der Mindestzeit von vier Semestern. Zusammen mit einem Kollegen, der es ebenso zügig geschafft hatte, wollten sie sich danach ein gemächliches Semester gönnen, in welchem die Hobbys - in seinem Fall das Segelfliegen - einen gebührenden Platz einnehmen sollten. Die Zeit verrann, viel mehr Zeit, als er für diese »schöpferische Pause« eingeplant hatte, und eines Tages erschreckte ihn sein Kollege mit der Mitteilung, er werde sich nun zur Diplomprüfung anmelden. Die daraus erwachsenen guten Vorsätze Lufts, das Versäumte aufzuholen, hielten aber nicht lange vor, er verfiel wieder in den alten Schlendrian, blieb zwar immatrikuliert, ging aber nicht mehr zu den Vorlesungen und verdiente sich sein Geld als Taxifahrer. Den Eltern log er vor, er hätte sein Studium schon abgeschlossen. Schließlich zog er in eine pazifistisch und ökologisch orientierte Wohngemeinschaft, deren Leitlinie es war, nur das zu tun, worauf man wirklich Lust verspürte. Er ging auf Demonstrationen mit den Kernkraftgegnern, lernte spielend Griechisch und Spanisch, fotografierte und interessierte sich für Computer. Daneben ging er seinem alten Hobby, dem Segelfliegen, nach. So hatte er bald schon sechzehn Semester auf dem Buckel, als er durch eine Anzeige seine spätere Frau kennen lernte: Es war Liebe auf den ersten Blick. Ihr zuliebe machte er mit dem Studium wieder ernst, heiratete sie und ein knappes Jahr später hielt er sein Diplom mit der Note von 1,5 in der Hand. Kurz danach wurde sein erster Sohn
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