Das Unglück der kleinen Giftmischerin
war, schrieb er sich die Nummer auf. Als kurz danach der Rundfunk von einer weiteren Vergewaltigung berichtete, verständigten seine Eltern die Polizei. Der Wagen gehörte einem jungen, renommierten Verkehrsexperten namens Friedhelm Luft, der noch am gleichen Abend festgenommen wurde. In seinem Kofferraum fanden sich Knebel, Stricke, Klebeband und ein Trainingsanzug. Das Opfer erkannte Luft sofort wieder, obwohl ihm nach seiner Überwältigung die Augen verbunden worden waren.
Schon bei seiner ersten Vernehmung gestand Luft fünf vollendete und eine versuchte Vergewaltigung in Laufe der letzten zwei Jahre. Heraus kam ferner, dass er bereits ein Jahr zuvor kurz in Verdacht geraten war, eine Frau überfallen zu haben. Auch damals hatte jemand sein Autokennzeichen notiert, als sein Wagen in einem abgelegenen Waldstück ganz in der Nähe des Tatortes gestanden hatte. Sein Foto war dem damaligen Opfer gezeigt worden, es hatte ihn darauf jedoch nicht wieder erkannt. So war das Verfahren gegen ihn eingestellt worden und die Polizei hatte sich bei Luft und seiner Frau sogar für den »falschen Verdacht« entschuldigt.
Luft erhielt vom Gericht eine Freiheitsstrafe von elf Jahren. Nach vier Jahren Haft, zuletzt in der Bildungsstätte einer JVA, um dort ein wirtschaftswissenschaftliches Fernstudium zu absolvieren, beantragte er Lockerungen, woraufhin die Anstalt sich entschloss, bei mir ein Prognosegutachten in Auftrag zu geben. Dies geschah noch bevor mit der Affäre Dutroux alle Lockerungen bei Sexualdelinquenten von einem Prognosegutachten abhängig gemacht wurden. Der für Luft zuständige Anstaltspsychologe, der mir die Akten übergab, verhehlte mir bei einem Vorgespräch nicht, dass er diesen »Kollegen« für einen zwar sehr intelligenten, aber auch sehr schwierigen und undurchsichtigen Gefangenen halte und deshalb eine externe Entscheidungshilfe begrüßen würde.
In dem gemütlichen Besuchszimmer der Bildungsstätte empfing mich ein schlanker, gut aussehender Mann, der erheblich jünger wirkte als seine knapp vierzig Jahre. Er brachte es fertig, bei mir für einen Augenblick der Eindruck zu erwecken, er sei gar kein Gefangener, sondern der Gastgeber für eine kleine Fachkonferenz. Meine Aufgabe sah er darin, dem »niveaulosen« und »unverständigen« Anstaltspsychologen sowie den »ignoranten« Justizbeamten die Berechtigung seiner Sichtweise klar zu machen. Dazu suchte er ein Bündnis mit mir und setzte nicht nur seine Intelligenz, sondern auch seinen ganzen nicht unbeträchtlichen Charme ein.
Sehr rasch stellte sich heraus, worin der Konflikt mit der Anstaltsleitung bestand: Luft meinte, er hätte die Persönlichkeitsprobleme, die ihn vor sechs Jahren zu seinen Taten getrieben hätten, inzwischen durch Selbstanalyse vollständig auf- und abgearbeitet, so dass man ihm nunmehr Haftlockerungen ohne Auflagen, insbesondere ohne eine Psychotherapieauflage gewähren könne, denn eine Rückfallgefahr bestünde nun nicht mehr. Die entsprechenden Paragraphen des Strafvollstreckungsgesetzes hatte er im Kopf und zitierte sie mir. Die Anstalt hingegen berief sich auf das im seinerzeitigen Strafverfahren erstellte Gutachten von Prof. X, der eine schwere, therapiebedürftige neurotische Störung diagnostiziert hatte.
Etwas widerstrebend ließ Luft sich dazu bewegen, mit mir über seine Lebensgeschichte und über das Hineingleiten in seine Delikte zu sprechen. Mir fiel auf, dass die Erzählung seiner Kindheit merkwürdig vernebelt ausfiel. Auf der Ebene seiner Bewertung war es eine glückliche Kindheit mit einem verständnisvollen Vater und einer liebevollen, wenngleich etwas klammernden Mutter gewesen. Er sprach von einer »vollkommen heilen Welt«, in der die Eltern Vorbilder dafür waren, dass man Konflikte durch Reden lösen könne. Hörte man hingegen auf seine Beschreibung, so kam heraus, dass die Familie jahrelang in einer ärmlichen, vor Schimmel starrenden Wohnung gelebt hatte, obwohl der Vater als Heimleiter einer Waldschule und Erziehungsberater ein gesichertes Einkommen hatte. Dieser Vater war kaum je zu Hause, weil er in der 80 Kilometer entfernten Landeshauptstadt eine kostspielige psychologische Weiterbildung absolvierte, zu der er jedes Mal von der Mutter hingefahren werden musste, da er wegen Trunkenheit am Steuer seinen eigenen Führerschein verloren hatte. Bei diesen Fahrten wurden die drei Kinder, solange sie noch klein waren, gleich mit in den Wagen gepackt, weil zu Hause niemand auf sie aufpassen konnte.
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