Das Unglück der kleinen Giftmischerin
eingestellt. Zum ersten Mal hätte er sich bewiesen, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen könne, wenn auch zum Schlechtesten. Den Kollegen gegenüber hätte er sich gedacht: »Wenn ich dir das erzählen würde, würdest du vom Stuhl fallen«, und den Vorgesetzten gegenüber: »Wenn ihr das wüsstet, dann würdet ihr euch mit mir nicht anlegen.« Auf eine verrückte Art hätte er sich nicht mehr so ausgeliefert gefühlt. Nicht was er der Frau gegenüber, sondern was er dem Gesetz gegenüber gewagt hätte, hätte ihm Befriedigung verschafft. Mir wurde klar, dass auch bei Luft das süchtige Verlangen vieler Delinquenten nach Transgression von Gesetz und Moral mitgespielt hatte, weil er sich nur so seiner Handlungsfähigkeit versichern konnte.
Lufts Hoffnung, das aus seiner Tat erwachsene Gefühl der Stärke werde anhalten, so dass er sie nicht zu wiederholen brauche, erwies sich als trügerisch. Wenige Tage später, als immer noch nichts von der Vergewaltigung in den Zeitungen stand, kamen ihm schon erste Zweifel: Er suchte den Tatort auf, um sich davon zu überzeugen, dass die Tat wirklich stattgefunden hatte, aber er hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass er es selbst gewesen war, der sie begangen hatte. Die ganze Szene verblasste und drohte, ihren Charakter als Erinnerung an etwas wirklich Geschehenes zu verlieren. Um sein Selbstgefühl wiederherzustellen, musste er sie neu inszenieren.
Das tat er 700 Kilometer von seinem Wohnort entfernt, nach einem Vortrag. Man hatte ihm strikte Anweisungen für seinen Inhalt gegeben, nur Altbekanntes durfte er bringen, keine neueren Forschungsergebnisse berücksichtigen. So hatte er sich wieder vergewaltigt gefühlt, und dieses Gefühl musste er, koste es, was es wolle, loswerden. Um diesmal in den Tagen nach seiner Tat ganz sicher zu sein, schnitt er dem Opfer ein kleines Büschel Schamhaare ab, das er mitnahm und zu Hause in einer abgeschlossenen Schublade verwahrte. Als er es aber betrachten wollte, ekelte er sich so vor sich selbst, dass er es wegwarf.
Die folgenden Vergewaltigungen unterschieden sich von den ersten dadurch, dass Luft jedes Mal weitergehende Forderungen an seine Opfer stellte, die ihm auch erfüllt wurden. Er verstand es offenbar, die Frauen davon zu überzeugen, dass er beabsichtigte, sie danach gehen zu lassen, was er auch tat. Die ersten drei Überfälle hatte er innerhalb von drei Wochen begangen. Nachdem der dritte fehlgeschlagen war und er nur durch Glück nicht als Täter identifiziert wurde, gab es, während die Untersuchungen gegen ihn liefen, eine fünfmonatige Pause. Luft sagte, dass weder seine Frau noch sein Anwalt noch seine Kollegen ihm diese Tat zugetraut hätten, ja er selbst hätte alle Vorwürfe in ehrlicher Empörung von sich gewiesen: so fremd sei ihm sein Täterich während seiner Alltagsexistenz erschienen, genauso wie Mr. Hyde Dr. Jekyll. Aber nachdem das Verfahren gegen ihn eingestellt worden war, hätte er sich gesagt, er müsse nun sein Angstgefühl überwinden, wie jemand, der sich nach einem Autounfall wieder ans Steuer setzt. So sei es zur vierten Tat gekommen. Danach hätte er für ein Jahr Ruhe gehabt. Seine Frau sei in dieser Zeit liebevoller und zärtlicher auf seine Wünsche und Bedürfnisse eingegangen und auch im Beruf gab es keine größeren Probleme. Dann aber hätte es neue Spannungen in seinem Betrieb gegeben und er bekam Angst, dass sein Vertrag nicht verlängert werden würde. Wieder fühlte er sich den Verhältnissen völlig ausgeliefert, das hatte zur fünften und zur sechsten Tat geführt. Erst nach seiner Verhaftung, die ihm wie ein böser Traum erschien, sei ihm, während der Vernehmungen durch die Kripo, wirklich klar geworden, dass er die ihm vorgeworfenen Taten tatsächlich begangen hatte.
Als ich mit ihm sprach, vertrat Luft die Überzeugung, er sei im Verlauf seiner Haftjahre den Ursachen, die ihn zu seinen Taten getrieben hätten, durch Selbstanalyse vollständig auf die Spur gekommen, so dass ihm Derartiges in Zukunft nicht mehr passieren könne. Die Ursachen lägen darin, dass er unfähig gewesen sei, anderen gegenüber eigene Interessen und Wünsche zur Geltung zu bringen, und sich überall, zu Hause wie im Betrieb, unterworfen habe. Inzwischen hätte er aber gelernt, nein zu sagen und unangemessene Ansprüche und Forderungen zurückzuweisen, ja, zur Durchsetzung seiner Rechte auch Beschwerde, notfalls sogar Klage zu erheben. Einer Therapie bedürfe er deshalb nicht mehr.
Zu
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