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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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Konflikten mit Justizbeamten und anschließenden Beschwerden gegen sie war es während der Haft tatsächlich mehrfach gekommen. Einer der Beamten hätte, so Luft, den Akten die Adresse seiner Frau entnommen, sie unter einem Vorwand aufgesucht und ein Verhältnis mit ihr begonnen. Seine Frau hätte ihm das bei einem Besuch gestanden und er hätte ihr verziehen, aber die Ehe, die die Erschütterung seiner Verhaftung noch nicht überstanden hatte, sei daraufhin kaputtgegangen. Er hätte sich über den Mann beschwert, wisse aber nicht, wie die Sache ausgegangen sei. Luft behauptete, bei den Beamten seien Techtelmechtel mit Gefangenenfrauen gang und gäbe, diese seien in ihrer Vereinsamung und ihren Nöten leichte Opfer. Auch sein gegenwärtiger Sozialarbeiter sei deswegen vorbestraft, und er, Luft, werde von ihm schikaniert, weil er sich über seinen Kollegen, mit dem sein Betreuer sich solidarisch fühle, beschwert hätte. Aber er hätte es gelernt, sich auch diesem Mann gegenüber zu wehren.
    Es gelang mir nicht, Luft verständlich zu machen, dass seine Einsicht in die Dynamik seiner Delinquenz unvollständig war. Offen blieb, weshalb es gerade Vergewaltigungen sein mussten, mit denen er sich das Gefühl zu verschaffen suchte, wieder handlungsfähig zu werden. An einer Stelle unseres Gespräches hatte er mir gesagt, er hätte auch an Banküberfälle gedacht, aber das sei ihm lächerlich vorgekommen. Warum hatte er diese Möglichkeit sogleich verworfen? Und warum hatte er nicht versucht, eine Sexualpartnerin zu finden, die ihm freiwillig alle seine Wünsche erfüllte? Gehörte das Brechen des Selbstbestimmungsrechts der Frauen nicht auch zu seiner Inszenierung, trug nicht auch das, wie bei vielen anderen Sexualdelinquenten, zu seiner Gratifikation bei? Bagatellisierte und banalisierte Luft nicht - wie seine übrigen Lebensprobleme - die Schwere seiner psychischen Störung? Und ebenso die Probleme, die bei einer Haftentlassung auf ihn zukommen würden? Dafür sprach, dass er mit der 15-jährigen Nichte eines Mitgefangenen, die diesen besucht hatte, ganz unbefangen eine freundschaftliche Beziehung eingegangen war und mit diesem Mädchen Liebesbriefe austauschte, dass in seiner Zelle Aktbilder hingen und die Anstaltszensur ihm zugesandte pornografische Bilder abgefangen hatte. Zwar räumte ein Mithäftling ein, diese Zusendung ohne Wissen Lufts veranlasst zu haben, aber ein Verdacht blieb, dass dies doch in seinem Auftrag geschehen war.
    Die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung schien mir also zweifelsfrei zu bestehen, und ich empfahl Lockerungen nur unter der Bedingung, dass Luft eine solche Behandlung begann. Er nahm diese Entscheidung, gegen meine Erwartung, ohne Widerspruch hin, sagte mir zum Abschied sogar: »Wer weiß, vielleicht bringt mich eine Therapie doch weiter.« Ich gewann den Eindruck, dass er sich zwar verpflichtet gefühlt hatte, so lange dagegen zu opponieren, wie noch Aussicht bestand, mich von seinem Standpunkt zu überzeugen, nun aber erleichtert war, dass er das nicht fertig gebracht hatte. Vielleicht hatte er vor sofortigen Lockerungen sogar Angst gehabt.
    Ob mit oder ohne Therapie: Heute befindet sich Luft jedenfalls schon seit einiger Zeit auf freiem Fuß. Wenn er wieder straffällig geworden wäre, hätte ich es wohl erfahren.
    Natürlich habe ich mich gefragt, ob er selbst in seiner Kindheit nicht das Opfer sexueller Gewalt geworden war, ob die ungeliebten Zärtlichkeiten der Mutter, von denen er sprach, nicht doch die Inzestgrenze überschritten hatten, auch wenn er sich an Derartiges nicht erinnern wollte, vielleicht auch deshalb nicht, weil seine Eltern mit seiner Verhaftung zu seinem einzigen zuverlässigen Halt geworden waren, den zu verlieren er sich nicht leisten konnte. Hatte sich aufgrund schwerer kindlicher Traumatisierungen eine dissoziative Persönlichkeitsspaltung entwickelt? Oder wollte er nur Gleiches mit Gleichem vergelten, sich bei den Frauen für die ihm angetane Gewalt rächen? Aber dafür ging es in den Vergewaltigungen zu wenig um die Frauen, zu sehr um ihn selbst - es sei denn, die ganze Geschichte seiner Selbstvergewisserungsversuche in der Waldeinsamkeit diente nur dazu, ein tiefer liegendes Geheimnis zu verbergen.
    Mit seiner Inszenierung hat Luft jedenfalls eine Sehnsucht aufs Paradoxeste befriedigen wollen. Mit Gewalt versuchte er die Frauen dazu zu bringen, seine Bedürfnisse nach Zärtlichkeit und Sexualität freiwillig zu erfüllen. Es war die

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