Das Unglück der kleinen Giftmischerin
stammendes Mädchen und bekam mit ihr eine Tochter. Kurzfristige Jobs wechselten mit Arbeitslosigkeit. Zunächst begleitete er Nikolai weiterhin bei dessen Drogenverkäufen, bis dieser einmal dabei auffiel und festgenommen wurde. Da Eugen mit im Auto saß, musste er als Strafe für eine ihm vorgeworfene »Beihilfe bei der Veräußerung von Betäubungsmitteln« 20 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten, während Nikolai für ein Jahr ins Gefängnis kam. Nach dessen Freilassung besuchte Eugen ihn noch ab und zu, bis zu seiner eigenen Verhaftung. Zu den anderen Mittätern hatte er nach der Hinrichtung Trabandts keinen Kontakt mehr.
Am nächsten Tag ließ ich mir von Eugen den Tathergang noch einmal schildern, in der Hoffnung, mehr darüber zu erfahren, weshalb er bis zum schrecklichen Ende mitgemacht hatte. Mir war klar, dass seine - wenn auch nur weitläufige - Verwandtschaft mit Nikolai dabei eine Rolle gespielt haben musste und dieser für Eugen zudem ein Vorbild gewesen war: ein junger Erwachsener, der einen schicken Wagen fuhr und als Dealer viel Geld verdiente. Der eigene Vater, dem er in Russland nachgeeifert hatte, war in Deutschland zur Untätigkeit verurteilt und auf milde Gaben des Sozialamtes angewiesen, so dass Nikolai vielleicht seinen leer gewordenen Platz als Autorität eingenommen hatte. Aber das erklärte seine Tatbeteiligung bis zur Tötung hin immer noch nicht, wie auch die Motive seiner Mitangeklagten mir weiterhin unklar blieben. Hatte Schuster von vornherein vorgehabt, Trabandt umzubringen, und waren seine Mittäter damit einverstanden gewesen oder hatte es irgendeinen Auslöser für die Tötung in der Tatsituation selbst gegeben? Schuster befand sich in England, so dass er dazu nicht gehört werden konnte. Eugens Schilderungen - und auch diejenigen der anderen Angeklagten - schienen eher dafür zu sprechen, dass es erst am See zu einem Stimmungsumschwung gekommen war, der dazu geführt hatte, dass Schusters Wut auf Trabandt sich plötzlich auch auf alle anderen übertrug. Ich fragte Eugen nochmals danach. Und schließlich räumte er ein, dass es Trabandts Drohungen, nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien umzubringen, gewesen waren, die diesen Umschwung bewirkt hatten. Nikolai hätte daraufhin geschrien, wenn Trabandt am Leben bliebe, würden sie alle keine ruhige Minute mehr haben. Die Tatsache, dass Trabandt am Vorabend bei Nikolais Eltern eingebrochen war, hätte sie alle veranlasst, diese Drohungen auch ernst zu nehmen. Zudem hätte jeder fürchten müssen, von Nikolai und den anderen beseitigt zu werden, wenn er nicht weiter mitmache.
Für eine ernsthafte psychische Störung gab es bei Eugen keinerlei Anhaltspunkte. Mit Trabandts »Bestrafung« war er einverstanden gewesen, an seiner Tötung hatte er sich beteiligt, sei es durch Unterlassung, sei es durch Beihilfe, sei es durch einen selbstständigen Tatbeitrag, auch wenn eine doppelte Angst, die vor Nikolai und die vor Trabandts Rache, dabei mitgespielt hatte. Natürlich musste auch die gruppendynamische Situation in Erwägung gezogen werden: das gegenseitige Sichaufschaukeln in Hass und Wut, die Angst, vor den anderen als Feigling dazustehen, wenn man kniff, die Loyalitätsverpflichtung dem Cousin und Vorbild Nikolai gegenüber. Zu Recht schreibt Lempp in seinem Buch »Jugendliche Mörder«, dass Gruppentäter gefährlicher seien als Einzeltäter, weil sie sich schwerer aus einem begonnenen Tatablauf zurücknehmen könnten und deshalb eine Tendenz zu einer »Flucht nach vorn« zeigten, dazu, die Sache zu Ende zu bringen, auch wenn es ein schlimmes Ende würde. Aber die Gruppe, die Trabandt umbrachte, war nicht, wie manche Jugendbanden mit ihren eigenen Gesetzen und Ritualen und ihrem unangefochtenen Anführer, eine verschworene Gemeinschaft gewesen. Ihr Bindeglied war die gemeinsame Herkunft, die triste Gegenwart und dazu noch für die Mehrzahl von ihnen die Abhängigkeit von ihrem Dealer, für Eugen die Verwandtschaft mit Nikolai. Dementsprechend war auch der Druck, der von dieser vagen Gemeinsamkeit ausging, nicht stark genug, um daraus allein eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit herzuleiten. Gleichwohl musste ich das Gericht darauf aufmerksam machen, dass Eugen und die anderen Täter einer sozial extrem gefährdeten Minderheit angehörten: Aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderte Jugendliche, ob nun Russlanddeutsche oder Angehörige anderer Nationalitäten, zeigen die weitaus höchste Kriminalitätsrate. Die
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