Das Unglück der kleinen Giftmischerin
autoritäre sowjetische Staatsgewalt war ihnen nur in ihrem extremen Verfallsstadium begegnet: Groß geworden waren sie in einem Zustand der Anomie, der Gesetz- und Begriffslosigkeit, in dem es oft nötig wurde, sich sein Recht selbst zu verschaffen. Anders aber als etwa bei den Kurden standen ihnen dabei keine Regressionsmöglichkeiten auf Rechts-, Ehr- und Moralbegriffe des Stammes oder der Ethnie zur Verfügung. Übrig geblieben war lediglich die Loyalität der engeren Familie gegenüber.
Die Russlanddeutschen waren dazu noch mit einem anderen Problem konfrontiert: In der Sowjetunion hatten sie während des Krieges als potenzielle Verräter gegolten, was sie dazu gezwungen hatte, ihre sprachlich-kulturelle Identität zu verleugnen und schließlich zu vergessen. So war die Herkunftsgeschichte von Eugens Familie innerhalb von zwei Generationen fast völlig ausgelöscht worden. Sie konnte ihm deshalb auch nicht als Stütze dienen, auch dann nicht, als die Zeit der Verfolgung und die der massiven Diskriminierung vorüber war. So wie viele Shoah-Opfer über lange Zeit die Kriegsjahre und die erlittenen Verfolgungen verdrängten und manche ihren Kindern sogar verheimlichten, dass sie Juden waren, hatten viele Russlanddeutsche den stalinistischen Terror und dessen Ansatzpunkt bei ihnen, ihre deutsche Herkunft, aus ihrem Leben gestrichen. Waren sie in Russland die bis zuletzt immer noch etwas unerwünschten Deutschen gewesen, wurden sie nun in Deutschland zu den nicht besonders willkommenen Russen. Das und die mangelnden Sprachkenntnisse führten zu einem Rückzug auf die eigene Herkunftsgruppe, was das Deutschlernen und die Anpassung an die hiesigen Lebensverhältnisse zwangsläufig weiter erschwerte. Die ohnehin mühselige Adaptationsleistung, die allen russlanddeutschen Einwanderern abverlangt wurde, an einen größeren Entscheidungsspielraum, an die Unsicherheiten der Zukunft, an eine individuelle, nicht mehr kollektive Leistungserbringung, an die neue Sprache bis hin zu den neuen Vornamen, verkomplizierte sich noch dadurch, dass Eugen und seine Mittäter sie als Pubertierende erbringen mussten, zu einem Zeitpunkt massiver biologischer Umstellungen, aber auch in einer Lebensphase, in der die Beziehung zu Gleichaltrigen besonders wichtig wird und zudem noch das Berufsleben beginnt. Das alles erklärt die besonders schwere kriminologische Vorbelastung dieser Bevölkerungsgruppe: der als Pubertierende eingewanderten russlanddeutschen Heranwachsenden und Jugendlichen. Bei der bestehenden Gesetzeslage gestattete auch das mir zwar nicht, für Eugen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit anzugeben, aber es zeigte mir noch einmal, wie problematisch die deutsche schuldstrafrechtliche Begrifflichkeit ist, zumal sie aufgrund ihrer inneren Logik einer Schuldbefreiung sehr enge Grenzen setzt, indem sie diese auf krankhafte Störungen und auf psychische Ausnahmezustände beschränkt. Zu seinem Glück war Eugen zum Tatzeitpunkt noch Jugendlicher gewesen, so dass das Gericht alle sozialen Begleitumstände ebenso wie erzieherische Gesichtspunkte auch unabhängig von der Frage der Schuldfähigkeit bei der Strafzumessung berücksichtigen konnte.
Die Hauptverhandlung zog sich über ein halbes Jahr hin. Außer den Sachverständigengutachten brachte sie kaum neue Erkenntnisse. Die Angeklagten gaben lediglich durch ihre Anwälte Erklärungen zum Tatgeschehen ab, selbst schwiegen sie. Dies machte es nötig, alle polizeilichen Vernehmungsbeamten als Zeugen zu ihren seinerzeitigen Aussagen zu hören. Die Aussageverweigerungen erschwerten auch die Arbeit der psychiatrischen Sachverständigen während der Hauptverhandlung. Mimik und Gestik der sieben Angeklagten reichten nicht aus, um sich ein Bild von ihren Gefühlen und von ihrer Persönlichkeit zu machen. Eine innere Betroffenheit, wie ihre Anwälte sie in ihren Erklärungen für sie formuliert hatten, war ihnen nicht anzumerken, sie wirkten eher wie etwas schüchterne, brave Schuljungen. Die einzige Ausnahme bildete Woldemar Schuster, Nikolais jüngerer Bruder. Der grinste nicht nur, wenn der Vorsitzende oder ein Sachverständiger redete, sondern gab den neben ihm sitzenden Angeklagten auch öfter in rüdem Befehlston auf Russisch die Anweisung, nur ja den Mund zu halten.
Im Urteil wurde den fünf zur Tatzeit heroinabhängigen Angeklagten erwartungsgemäß eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt, sie erhielten wegen Totschlages eine dreijährige Jugendstrafe. Der
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