Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
Vom Netzwerk:
drogenabstinente Eugen wurde für voll schuld-
    fähig befunden und zu fünf Jahren und drei Monaten verurteilt, auch weil das Gericht ihn als rechte Hand des Anstifters Nikolai Schuster ansah. Mir taten die jungen Leute - ausgenommen Woldemar Schuster - leid. In den zwei Jahren nach der Tat war es den meisten von ihnen gelungen, von ihrer Drogenabhängigkeit loszukommen, die meisten hatten auch eine Beschäftigung und eine stabile Partnerschaft gefunden. Die Gefahr war groß, dass sie im Gefängnis oder danach nur in einer kriminellen Subkultur wieder Anschluss finden würden. Hätte das Gericht die Möglichkeiten des Jugendstrafrechts voll ausschöpfen wollen, so hätte es eine Jugendstrafe verhängen können, deren Rest - nach Anrechnung der einjährigen Untersuchungshaft - zur Bewährung aussetzbar war. Für dieses Vorgehen hätte gesprochen, dass die Jugendstrafanstalten inzwischen mancherorts zu einer Ausbildungsstätte für künftige Berufskriminelle geworden sind, in der bandenmäßig organisierte Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion den Ton angeben. Wer dabei nicht mitmacht, muss mit den schlimmsten Repressalien rechnen.
    Ein solches Urteil hätte freilich den Zeitgeist - und dessen Inkarnation, die Medien - gegen sich gehabt und wäre in dem vorherrschenden Sicherheitsdiskurs in Grund und Boden verdammt worden. Es hätte deshalb viel Mut erfordert. Aber auch ich selbst spürte, als ich mir diese Möglichkeit vor Augen führte, dagegen einen unerwartet zähen inneren Widerstand. Immerhin waren sie alle für den qualvollen Tod eines jungen Menschen verantwortlich gewesen. Und hätte es ihre Neigung zur Selbstjustiz nicht noch weiter verstärkt, wenn sie nach der Hauptverhandlung gleich auf freien Fuß gekommen wären? Hätte Woldemar Schuster dann nicht vollends triumphierend gegrinst? Und gab ihnen ihre Menschenwürde nicht sogar, wie Kant es seinerzeit formuliert hatte, ein Anrecht auf Strafe und Sühne?

 
    Nachwort: Der Sicherheitsdiskurs
    Der Verrückte und der »psychopathische« Mörder sind einander ergänzende Horrorgestalten unseres kollektiven Unbewussten. Erschreckt der Verrückte meist schon durch seinen Anblick, so verbirgt sich der psychopathische Mörder oft hinter einer Maske biederer Normalität. Jeder von ihnen erzeugt auf seine Weise Angst und fordert zum Entwurf von Abwehrstrategien auf. Diese Ängste und diese Abwehrbedürfnisse sind naturgemäß empfänglich für einen Sicherheitsdiskurs, mit dem bestimmte politische Gruppierungen, manchmal auch nur bestimmte Politiker den Eindruck zu erwecken suchen, sie und die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen könnten Schutz vor Wahnsinn und Verbrechen bieten.
    W. F. Haug hat gezeigt, dass die deutschen Faschisten Meister in der politischen Nutzung eines solchen Sicherheitsdiskurses waren. Die Sicherheitsverwahrung, aber auch die forensische Unterbringung wurde von ihnen 1933, im Gesetz »gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher«, in das deutsche Strafrecht eingeführt. Jeder, der die Notwendigkeit solcher Maßnahmen in Frage stellte, lief Gefahr, der Komplizenschaft bezichtigt zu werden. Der Sicherheitsdiskurs ist ja nicht nur eine in die Öffentlichkeit gestellte abstrakte politische These: Er ruft jeden Einzelnen an: »Wann tun Sie endlich etwas für Ihre Sicherheit?« Das klingt nicht nur wie ein aufdringlicher Reklamespot (Wann tun Sie endlich etwas für Ihre Cholesterinwerte, für Ihre Haut etc.), sondern fordert auch zu vorbehaltloser Zustimmung und persönlichem Einsatz heraus: Nur dadurch kann man sich vergewissern und den anderen beweisen, dass man selbst auf der richtigen Seite, in diesem Fall, der Seite des Rechts steht.
    Die Zustimmung zum Sicherheitsdiskurs darf aber nicht nur verbal sein. Sie muss sich auch in ihn bestätigenden Gefühlen und Handlungen ausdrücken. Wenn die Medien von abendlichen Überfällen in der U-Bahn berichten, zeige ich meine Zustimmung darin, dass auch ich davor Angst habe, ab 22 Uhr dieses Verkehrsmittel meide und stattdessen ein Taxi nehme. Versteife ich mich darauf, abends noch U-Bahn zu fahren, so verlasse ich schon damit die Solidargemeinschaft der rechtschaffenen Bürger und muss in Kauf nehmen, dass man mich zu denen zählt, die die Gewalt nicht richtig ernst nehmen, ja vielleicht selbst einen kleinen Hang zur Dunkel- und Unterwelt haben. Der Sicherheitsdiskurs hat also auch eine Disziplinierungs- und Ordnungsfunktion. Weil er jeden einzeln anruft, wie Gott im Alten Testament die Propheten,

Weitere Kostenlose Bücher