Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
Symbole, die ihr den Weg weisen sollten, fand sie den Zug, den sie nehmen musste. Sie sah sich um, aber niemand schenkte ihr Beachtung. Also tat sie es den anderen Passagieren gleich und stellte sich auf den Bahnsteig, um auf das Eintreffen der Metro zu warten. Unauffällig musterte sie dabei die Reflexionen der anderen Fahrgäste in der Glasscheibe. Da der Bahnsteig überaus hell beleuchtet war, hatte sie keine Mühe, Einzelheiten in den Gesichtern zu erkennen.
Wie gebannt beobachtete sie einen Mann, auf dessen Wange ein großer, brauner Leberfleck prangte, als hätte jemand einen schmutzigen Fingerabdruck dort hinterlassen. Weiter hinten zerrte eine Frau ein schreiendes Kind hinter sich her, das einen zerlumpten Stoffhasen an sich presste, und in einem dunklen Winkel presste sich kichernd ein Pärchen in Nioves Alter gegen die Wand und tauschte nicht gerade heimlich Zärtlichkeiten aus.
Verblüfft stellte Niove fest, dass sie alle natürlichen Ursprungs sein mussten. Wie konnten die Leute behaupten, es würde bald nur noch Optimierte geben, wenn die ganze Stadt mit dem Leben der Natürlichen pulsierte?
Einmal darauf aufmerksam geworden, waren die Unterschiede allzu leicht zu erkennen. Niemand stand hier in perfekter Haltung, tadelloser Kleidung und mit ausdrucksloser Miene. Das Ideal, zu dem die Menschen sich selbst heranzüchteten, war im Vergleich zu den Natürlichen nichts anderes als eine organische Maschine, nicht fähig, zu fühlen oder eigene Gedanken zu entwickeln.
Nioves Grübeleien wurden unterbrochen, als sich die Glasscheibe senkte und der Zug einfuhr. Sie nahm einen Platz am Fenster ein, wandte sich aber enttäuscht davon ab, sobald die Monitore darauf aktiv wurden und ihr die Sicht nahmen. Stattdessen lauschte sie interessiert den Ausführungen eines schwarz gekleideten Mannes, der einem Jungen in blauen Roben die Mechanik der Metro erklärte. Die beiden unterschieden sich eindeutig von den übrigen Passagieren, doch niemand schien ihnen irgendeine Bedeutung beizumessen. Also konzentrierte sich Niove vor allem auf den Inhalt ihres Gesprächs, um mehr über die Stadt herauszufinden, von der sie gedacht hatte, alles zu wissen. Fast hätte sie dabei die Tonbandstimme verpasst, die das N4-Center ankündigte, kurz bevor die Metro in der Station Halt machte.
Wieder an der Oberfläche hatte sie zuerst einige Mühe, die richtige Richtung einzuschlagen. Der Metroeingang lag nicht direkt am Hauptplatz, aber zu ihrem Glück auch nicht allzu weit davon entfernt, sodass sie nach ein paar Versuchen die richtige Gasse erwischte und sich vor dem Gebäude des Centers wiederfand.
Missbilligend sah sie zu dem Turm auf. Sie konnte selbst nicht fassen, wie naiv sie gewesen war. Dass sie einmal derart darauf gebrannt hatte, sich in den Laboren aufzuhalten und eines Tages selbst zu den Forschern dort zu gehören, um ihren Beitrag leisten zu können.
Gerade warf sie dem Center noch einen letzten, abfälligen Blick zu, da erklang hinter ihr eine Stimme.
„Beschämend, nicht wahr?“ Überrascht wandte sie sich zu dem Sprecher um und erkannte den schwarz gekleideten Mann aus der Metro. Der Junge stand in respektvollem Abstand hinter ihm.
„Widerwärtig wäre meine Wortwahl gewesen“, nickte sie ihm zu.
Er sah die Fassade des Gebäudes hinauf. „Widerwärtig, was da drinnen angerichtet wird.“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf Niove. „Beschämend, dass wir alle einer Spezies angehören.“
Sein Blick war so durchdringend, dass sie fürchtete, er könnte durch ihre Augen hindurch direkt in ihr Innerstes sehen und dort all die Schuld finden, die sie bei seinen Worten empfand. Scham war gar kein Ausdruck dafür. Sie musste die Augen abwenden und sah hilflos zu Boden.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Was ihr vorhin bei ihrem eigenen Bruder noch unerträglich gewesen war, füllte sie bei diesem Fremden plötzlich mit beschützender Wärme. Sie hob den Kopf und sah, dass er ihr aufmunternd zunickte.
„Der Mensch ist perfekt, wie er geschaffen wurde.“ Er lächelte, als wäre die Bedeutung seiner Äußerung selbsterklärend. Dann winkte er dem Jungen und die beiden verschwanden ohne ein weiteres Wort die Straße hinab.
Niove sah ihnen noch eine Weile nach, bis sie sich wieder genug auf die Gegenwart fokussieren konnte, um den Heimweg anzutreten. Durchnässt und schmutzig, wie sie war, stieg sie in den Aufzug, der sie zurück in ihre eigene Welt brachte.
In den wenigen unverplanten
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