Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
das ihn jünger erscheinen ließ und in ihr den irrationalen Impuls auslöste, ihn in die Wange zu kneifen und „mein Junge“ zu nennen. Sie biss sich auf die Zunge und warf ihm stattdessen einen anklagenden Blick zu, den er mit einem Zwinkern beantwortete. Allerdings wurden sie schlagartig wieder ernst, sobald er die Klinke an der Innenseite der Tür hinunterdrückte und die Dunkelheit hereinließ.
Als sie endlich wieder im Inneren der Gebetsstätte waren, war nicht nur Niove von Erschöpfung gezeichnet. Sie wollte sich auf eine der harten Bänke niederlassen, aber Atlan hielt sie davon ab.
„Wir können uns auch in den Wohnräumen unterhalten, wenn du möchtest. Dort könnte ich dir auch etwas zu trinken anbieten, bevor du dich auf den Heimweg machst. Und Essen natürlich! Entschuldige, dass ich nicht früher daran gedacht habe. Du musst hungrig sein?“
Gerade als sie den Mund öffnete, um zu widersprechen, bezichtigte das Knurren ihres Magens ihre unausgesprochenen Worte der Lüge. Beschämt drückte sie eine Hand auf ihren Bauch.
„Jetzt wo du es erwähnst, bekomme ich Hunger. Aber ich möchte nicht zur Last fallen …“
„Unsinn!“, ereiferte sich der junge Priester. „Ich habe zwar nicht viel, aber es ist von besserer Qualität als das meiste, das man in den Wohnvierteln findet.“
Geplagt von schlechtem Gewissen folgte sie ihm. Er wollte das Wenige, über das er selbst verfügte, mit ihr teilen, während sie zu Hause im Überfluss schwamm – doch sie konnte nicht ablehnen, ohne die Aufdeckung ihrer Herkunft zu riskieren. Davon abgesehen genoss sie die Gespräche mit ihm. Er verbreitete eine Atmosphäre, in der sie sich wohl fühlte, entspannen und sie selbst sein konnte.
Und er schaffte etwas, das sie seit Jahren vermisste: Er weckte in ihr das Bedürfnis, ihm zuzuhören und von ihm zu lernen.
Das Innere der Wohnräume versetzte sie in Erstaunen. Sämtliche unbenutzte Wandflächen waren über und über mit Malereien bedeckt, die eine beständige Steigerung der Fertigkeiten des Künstlers erkennen ließen. Ein Blick in Atlans rotes Gesicht offenbarte ihn als denjenigen, der diese Werke geschaffen hatte. Sie schritt die Bildnisse ab, gefesselt von der Liebe zum Detail, die aus ihnen sprach.
Zu ihrer Verblüffung schienen es zwar durchgehend religiöse Szenen zu sein, doch keine, denen sie bisher in den zahlreichen Gebetsstätten begegnet war.
Das am häufigsten wiederkehrende Motiv war eine Frau in blauem Umhang, die in unterschiedlichsten Positionen gezeigt wurde. Weinend vor einer Höhle, segnend eine Hand erhoben, einen Säugling auf dem Arm, mit einem Mann auf dem Schoß. Sogar mit einem gewölbten Bauch, der wohl eine Schwangerschaft darstellen sollte, obwohl sich die Position der Wölbung deutlich von der in ihren medizinischen Büchern unterschied.
Es waren auch andere Szenen abgebildet. Manche der Bilder waren furchteinflößend, wie die eines offensichtlich sterbenden Mannes, der an ein einem Kreuz hing. Andere wirkten friedlich, beispielsweise die Abbildung von Männern, die weiße Tiere trugen, oder die einer Versammlung von Menschen, die den Worten eines einzelnen Mannes zu lauschen schienen.
Nachdem sie jedes einzelne Bild betrachtet hatte, nahm sie an dem Tisch Platz, den Atlan in seiner Nervosität gedeckt hatte. Eine Schale mit Tee entgegennehmend bemerkte sie: „Es muss Jahre gedauert haben, um all das zu malen.“
Das Gesicht des Priesters, das gerade begonnen hatte, wieder eine normale Farbe anzunehmen, rötete sich erneut. „Meister Ektor – mein verstorbener Lehrer, der früher hier gepredigt hat – hat mir diese Arbeit als Beschäftigung für die Abende gegeben, nachdem ich das Kloster verlassen musste.“
Er zuckte zusammen, als hätte ihn seine Äußerung selbst erschrocken. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte er den letzten Teil wohl lieber für sich behalten. Niove überlegte kurz, ihn darauf anzusprechen, beschloss aber, dass sie ihn bereits genug in Verlegenheit gebracht hatte – für heute. Wenn er darüber sprechen wollte, würde er von selbst weiterreden. Also ließ sie Gnade walten und wechselte das Thema.
„Es sind keine Bilder, die ich bisher gesehen habe. Aber sie scheinen zusammenzuhängen.“
Dankbar nickte er. „Es ist eine verloren gegangene Lehre. Sie besagt, dass Gott seinen Sohn auf die Erde gesandt hat, um die Menschen auf den rechten Weg zu bringen und sie zu erlösen. Das dort ist die Frau, die als seine Mutter auserwählt
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