Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
seiner Stimme, die in absolutem Kontrast zu der seines Vorredners stand und in Anbetracht seiner Jugend überraschte. Sie konnte die Wärme fühlen, die seine Worte ausstrahlten, und mit einem Mal verstand sie, warum dieses Gebetshaus vor Besuchern zu bersten drohte, während andere kaum eine einzelne Bank füllen konnten.
Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie den älteren Priester ansah, dessen verbissene Züge immer weiter an Farbe verloren, je länger Atlan sprach.
Dieser junge Mann auf dem Pult machte seine Zuhörer zu seinen Kindern, Eltern, Brüdern und Schwestern. Niove war ein Teil dieses Wunders und unsagbar stolz. Auf ihren Bruder, der dort oben sprach, und darauf, dass sie hier stehen und Zeuge sein durfte.
Es dauerte lange, bis die letzten Gläubigen das Gebetshaus verließen. So viele waren es, die Atlan gratulierten und sich dabei oft mit ihrer Meinung über Seru nicht zurückhielten. Aber auch der Alltag ließ sich nicht verdrängen. Viele seiner Schützlinge kamen, weil sie Rat und Trost benötigten, um einen weiteren Tag lang durchzuhalten.
Es war nach Mitternacht, als er endlich die Doppelflügeltür hinter der alten Dame schloss, die ihm von dem glücklichen Verlauf der Krankheit ihres Mannes berichtet hatte, und tief durchatmete.
Das leise Rascheln hinter sich nahm er erst gar nicht wahr. Ratten waren allgegenwärtig und längst nichts mehr, das ihn aus der Fassung bringen konnte. Die weiche Frauenstimme dagegen ließ ihn herumfahren.
„Priester? Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Verlegenheit rötete ihre Wangen, was ihr ungewöhnliches Gesicht mit einem Mal schön aussehen ließ. Atlan starrte fasziniert in die tiefgrünen Augen des Mädchens. Obwohl ihre Anwesenheit nur Arbeit bedeuten konnte, war seine Müdigkeit mit einem Schlag verschwunden.
Er lächelte ihr aufmunternd zu. „Nenn mich ruhig Atlan, das tun alle. Oder „mein Junge“, aber das …“ Verschämt brach er ab und suchte krampfhaft nach der Ruhe des Predigers, die ihn sonst wie eine zweite Haut einhüllte. Sich räuspernd setzte er erneut an.
„Wie kann ich dir helfen? Ich denke, ich habe dich hier noch nie gesehen. War das deine erste Messe? Hier, meine ich.“ Langsam sehnte er sich nach einem Loch im Boden, in das er versinken konnte. Aber gleichzeitig wollte er keine Sekunde ihrer Anwesenheit verlieren. Erleichtert registrierte er ihr Lächeln.
„Ich habe verschiedene Gebetshäuser besucht, aber bisher war keines wie dieses hier. Das ist ein Kompliment“, fügte sie rasch hinzu, als Atlans Züge zu entgleisen drohten. „Ich brauche keine Hilfe, denke ich. Ich würde gerne helfen.“ Sie schien sein Schweigen zu missverstehen, denn sie fuhr fort: „Natürlich nur, wenn du das möchtest. Ich würde einfach gerne etwas tun, um anderen zu helfen.“
Eine Freiwillige? Sie hatten hier nie Helfer gehabt, aber das lag sicherlich nicht daran, dass zu wenig zu tun war. Zu ihnen kamen diejenigen, die Hilfe benötigten. Wer aktiv helfen wollte, wandte sich meistens direkt an die Abtei. Hatte Meister Ektor auch solche Angebote erhalten? Wenn, dann hatte er Atlan nie davon erzählt.
Er konnte nichts Verwerfliches daran sehen, Hilfe anzunehmen. Sollte es aus ihm unbekannten Gründen unangebracht sein, würde er sich eben den Konsequenzen stellen müssen. Er war jetzt ein Priester und durfte sich nicht länger hinter dem Rockzipfel seines verstorbenen Meisters verstecken.
Zögernd nickte er der jungen Frau zu. „Gut. Ich meine – danke. So etwas hat mir bisher noch niemand angeboten. Es ist nur … Ich kann dich nicht bezahlen. Die Gemeinde lebt von Spenden.“
Die Frau überlegte kurz, dann nickte sie. „Das ist in Ordnung. Ich habe genug Einkünfte, um zu leben.“
„Das freut mich. Komm, wir können gleich beginnen, wenn du willst.“
Er führte sie zu der Tür, hinter der die Hungrigen auf seine Spenden warteten. Irritiert ertappte er sich bei dem Gedanken, dass sie trotz ihres Overalls eine von den Frauen sein musste, die ihren Körper verkauften. Niemand aus den Fabriken hätte es sich leisten können, ohne Bezahlung zu arbeiten. Er rief sich in Erinnerung, dass er kein Recht hatte, über das Leben dieses Mädchens zu urteilen. Aber die Unruhe, die dieser Gedanke in ihm verursachte, nagte weiter an ihm.
Sie verlor kein Wort über die Gestalten, die sich im Dunkeln drängten. Wortlos wie die Bittenden reichte sie Gabe um Gabe, bis der Vorrat erschöpft
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