Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
damit es am nächtlichen Himmel nicht zu sehen war.«
»Genau«, bestätigte er. »Und die verführerischen Elemente, aus denen die Sichel bestanden hat, taten ihr Übriges. Da halfen auch die Warnungen des Windes nicht mehr. Normalerweise hätte die Fee nämlich Verdacht schöpfen müssen, nachdem ihr das Mondlicht plötzlich keine Schmerzen mehr zugefügt hat.«
Plim setzte sich in Rabensteins Ledersessel und legte die Füße auf den Tisch.
»Und warum ist das Ding dann auf einmal vom Himmel gefallen?«
»Vielleicht hat der Eiskönig ja etwas außer Acht gelassen«, erwiderte Primus, »oder vielleicht haben Wolken das Sternenlicht blockiert. Bei mir zu Hause ist der Stein schließlich auch gleich zu Boden gekracht, nachdem du dich vors Fenster gestellt hast.«
»Wenn das so ist«, sagte sie, »dann müssten doch noch irgendwo andere Bruchstücke herumliegen. Die können doch nicht so schwer zu finden sein.«
Plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag.
»Hast du das gehört?«, fragte Primus.
Plim schüttelte den Kopf und gähnte. »Ich habe nichts gehört.« Ein wenig abwesend nahm sie das Buch und ließ mit dem Daumen die Seiten flattern. Als sie ganz hinten ankam, rutschte ein vergilbter Zettel heraus.
»Was ist denn das?«, fragte Primus.
Plim faltete das Papier auseinander. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich nur ein kleiner Nachtrag zu Ulmes Geschichtensammlung. Hier, du kannst diese alte Schrift sowieso besser lesen als ich.«
Er beugte sich zu ihr und griff sich das Blatt Papier. Unbeeindruckt winkte er ab.
»Das ist keine Geschichte«, sagte er, »das ist bloß eine alte Abrechnung. Sie ging seinerzeit an Ulme und kam von den Hügelkobolden.« Primus hob erstaunt die Augenbrauen. »Ganz schön teuer dieser Verein. Hundertzwanzig Goldstücke wollten die von ihm haben.«
»Was hat er denn gekauft?«
»Nichts«, antwortete er. »Ulme hat den Postanschluss reparieren lassen, der vom Turm aus unter den Nebelfeldern hindurch …« Hier brach er ab.
»Ja?«, sagte Plim und streckte sich. »Unter den Nebelfeldern hindurch … und dann?«
Primus stand der Mund offen. Völlig überwältigt schaute er sie an, bevor er langsam zu lesen begann:
»… unter den Nebelfeldern hindurch und am Leuchtenden See vorbei bis nach Hohenweis führt.«
»Was?«, rief sie.
Primus sprang vom Tisch und zeigte Plim das Schriftstück. »Hier, lies selbst. Da steht Leuchtender See .«
»Also doch«, sagte sie. »Die Splitter liegen im Mondwassersee! Jetzt wissen wir auch, warum sich Rabenstein dort herumtreibt.«
Fassungslos schüttelte Primus den Kopf. »Ich fliege ständig in dieser Gegend umher und noch nie habe ich dort einen Lichtschimmer bemerkt. Ausgerechnet den Kobolden soll das aufgefallen sein? Sehr merkwürdig.« Er spitzte die Lippen und blickte zur Decke. »Irgendwas stimmt doch hier nicht.«
»Dann ist es eben ein anderer See«, schlug Plim vor. »Was soll’s?!«
»Das habe ich mir auch schon gedacht, aber ich kenne weit und breit keinen anderen See. Na gut«, lenkte er ein, »möglicherweise verstecken sich in den Bleibergen noch einige kleine Wasserlöcher, aber dort läuft bestimmt nicht meine Postleitung vorbei.«
Er reichte Plim den Zettel und schritt grübelnd auf und ab.
»Wo ist der See?«, murmelte er. »Bei den Nebelfeldern ist er jedenfalls nicht, dieses Gebiet kenne ich wie meine Westentasche.«
»Und im Finsterwald kann er auch nicht sein«, fügte Plim hinzu. »Zumindest habe ich von oben keinen gesehen.«
Primus nickte. Dann schaute er sie mit einem durchdringenden Blick an.
»Wie meinst du das?«
»Na, wie wohl?«, entgegnete Plim. »Von oben, aus der Luft eben. Was alles unter den Baumkronen liegt, weiß ich natürlich nicht.«
Regungslos stand er da. Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz.
»Das ist es«, rief er. »Du hast das Rätsel gelöst!«
»Da bin ich aber froh«, sagte sie. »Erklärst du es mir bitte kurz?«
»Der See!«, schoss es aus ihm heraus. »Kein Wunder, dass wir ihn nicht kennen. Man kann ihn gar nicht von oben sehen, sondern nur von unten. Weißt du, was ich meine?!«
»Nein, nicht die Bohne.«
Primus riss die Augen auf. »Es muss irgendwo einen unterirdischen See geben. Einen See, der nur den Kobolden bekannt ist, die die Postleitungen graben. Jetzt ist mir auch klar, was die Rätselrübe gemeint hat. Sie hat von einer anderen Seite gesprochen! Von einem verkehrten Ort, wo sich der Himmel auf dem Boden befindet.« Er ballte die Fäuste. »Damit hat sie den
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