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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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heraus und rannte nach unten. Die Szene in der Küche war unverändert. Margit klebte an der Wand, der Tiger vor ihr knurrte bedrohlich. »Nicht, nicht …«, wimmerte Margit. Marie wusste: Auf das Tier würde das keinen Eindruck machen. Besser wäre es, in einem solchen Fall den Mund zu halten. Sie öffnete die Arretierung und packte die Waffe fest am Bakelitschaft – und eben nicht am Magazin, wie es Leute machen, die sich nicht auskennen: Das Magazin der MP 40 ist eine konstruktive Schwachstelle, wenn man die Waffe dort festhält, verkantet es leicht, das führt zu einer Ladehemmung, was sich Marie Kaserer in der speziellen Situation nicht leisten konnte.
    Die Neun-Millimeter-Parabellum-Munition war für den Zweck die denkbar ungeeignetste, aber was hätte sie machen sollen? Wer hat schon ein Gewehr für Großwild zu Hause? Marie hoffte, das Rückgrat des Tigers zu treffen, die Chancen standen bei einem Meter Entfernung nicht einmal schlecht; »Ich hab noch gedacht«, erzählte sie später, »hoffentlich gibt’s keine glatten Durchschüsse auf Margit, aber dann hab ich gedacht, das ist so ein massiges Vieh, da bleibt das sicher stecken, ist ja nur Pistolenmunition …«
    Die Sorgen wegen glatter Durchschüsse erwiesen sich leider als berechtigt, insofern die leere Luft den glattesten Durchschuss überhaupt ermöglicht. Marie plazierte einen kurzen Feuerstoß auf den Rücken des Raubtiers, und Margit brach an der Küchenwand zusammen.
    Der Tiger war weg.
    Verschwunden. Nicht mehr da. Von einer Zehntelsekunde auf die andere. Eine weiße Katze mit merkwürdiger braunerZeichnung am Rücken floh aus der Küche. Marie setzte sich auf den Boden, die MP 40 legte sie mit großer Vorsicht neben sich. Margit lehnte an der Küchenwand. Vier Einschüsse, und Marie wusste nicht, was sie tun sollte, aber zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie die ältere Schwester nicht fragen. Margit war tot.

9

    Jetzt dachten sie schon eine Stunde über das Problem nach, und Hildegard wurde unruhig. Das wunderte ihn. In der Redaktion hatten sie früher halbe Tage über irgendeinen Kleinscheiß herumsinniert, mit Brainstorming und dem ganzen Kokolores, weil der Chefredakteur sich das einbildete – nach einer Stunde hatte sich da noch keiner auch nur warmgeredet, eine Stunde war gar nichts. Ihre Ungeduld hing mit ihrem Beruf zusammen, mutmaßte er.
    In so einer Tierpraxis musste, wer Erfolg haben wollte, ganz anders auf Draht sein. Oder: Sein Zeitgefühl hatte sich verändert. Seit seinem Geständnis fühlte er sich nicht nur frei, beschwingt, erleichtert, das sowieso, sondern auch abgehoben, irdischer Sorgen ledig. Denn sie saß hier in seinem Wohnzimmer. Immer noch. Statt zum Beispiel unter gemurmelten Verwünschungen das Weite gesucht zu haben; halt: nicht so sehr das Weite als vielmehr die nächste Polizeiinspektion, wie die Posten jetzt hießen – um eine Anzeige zu machen. Sie hätte allerdings den Teil mit der Polizeiinspektion auch weglassen können, das Ergebnis wäre für ihn genauso verheerend gewesen. Denn sie wäre – weg. Er konnte, das wurde ihm erst jetzt klar, ohne diese Frau nicht leben, nicht einen Tag, er wusste gar nicht, wie das technisch gehen sollte, Leben ohne Hildegard. Vorher war das kein Problem gewesen, sicher, er erinnerte sich an die vielen Jahre ohne Hildegard, aber das waren Erinnerungen eines anderen Menschen, der mit ihm nur wenig zu tun hatte und nicht besonders interessant war, ein langweiliger Durchschnittstyp in einem grauen Laben, ja, der mochte ohne Dr. Hildegard Rhomberg ausgekommen sein; aber er, erselbst, Mauritius Schott, hatte keine Vorstellung, wie das gehen sollte. Ohne sie …
    »Fassen wir zusammen«, sagte sie. »In der Villa dort drüben wird ein Drogenlabor betrieben. Dafür haben wir fotografische Beweise. Zur Polizei können wir aber nicht, weil du von dort einen beträchtlichen Geldbetrag mitgenommen hast …«
    »… und die tote Frau Leupold entdeckt hab ich auch«, unterbrach er sie, damit der Diebstahl nicht so allein, gewissermaßen nackt, im Diskursraum stand.
    »Ja, das würde dich in ein schiefes Licht rücken und ernste Probleme verursachen.« Er wusste inzwischen aus ihren Erzählungen, dass ernste Probleme ihr veterinärmedizinischer Code für hat keinen Zweck mehr war. Offenbar wollte sie verhindern, dass ernste Probleme auftraten, weil das bedeuten würde, dass er so gut wie tot war. Sie würde also nicht zehn Jahre auf ihren Mauritius warten.
    »Andererseits

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