Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
Vom Netzwerk:
weniger als Menschen.
    »Gut, dass du kommst, Sami«, sagte Schott. »Würdest du dich um ihn kümmern?« Hildegard schien verwirrt.
    »Sprichst du jetzt mit mir?«
    »Natürlich. Würdest du dich um Sami kümmern?«
    »Willst du verreisen?«
    »Ich will nicht, ich muss. Aber nicht weit. Nur nach Feldkirch. Ins Gefängnis.«
    Sie sagte lange nichts. Dann seufzte sie tief und begann den Kater zu streicheln. Der schloss die Augen und fing an zu schnurren. »Ungewöhnlich«, sagte sie. »Ich meine, die Tiere, die ich behandelt habe, sind im Allgemeinen nicht begeistert, mich wiederzusehen …«
    »Sami ist eben anders«, sagte er. »Neulich zum Beispiel, da hat er …«
    »Schon gut. Du kannst anfangen.«
    »Womit?«
    »Eben war von Gefängnis die Rede. Würde mich jetzt schon interessieren, wieso du da hinmusst.«
    Er begann zu erzählen.

    *

    »Du kannst dich nicht erinnern? An gar nichts?«
    Marie Kaserer schüttelte den Kopf. Seit dem Vorfall im Wald sprach sie nicht viel und erweckte den Anschein, nicht ganz da zu sein. Margit machte das Sorgen.
    »Also red schon! Was war das Letzte, woran du dich erinnerst?«
    »Die Fahrt in den Wald …«
    »An die Begegnung mit Nowak kannst du …«
    »Keine Chance. Ich hab’s versucht, da ist alles schwarz. Filmriss. Als ob ich schwer was getrunken hätte.«
    »Das ist ganz untypisch für dich, das letzte Mal war doch damals, als du mit dem Adi Fischer …«
    »Ja, ja, ich weiß, was du meinst! Hör auf damit, ich will nicht daran denken.« Margit hörte auf. Die Sache mit Adi Fischerwar auch schon fast vierzig Jahre her. Nach einer Weile sagte sie: »Möchtest du einen Tee?«
    »Tee ist eine gute Idee. Aber bleib sitzen, heute mach ich ihn!« Margit nickte. Sie war so überrascht, dass es ihr die Rede verschlug. Marie stand auf und verschwand in die Küche. Sie stand auf, einfach so. Nicht rasend schnell, nicht wie eine trainierte Sportlerin, aber doch so, dass auch ein Außenstehender nichts gemerkt hätte. Ohne dieses Hochstemmen an den Sessellehnen, als ob sie hundertvierzig Kilo wöge (sie hatte nicht einmal die Hälfte davon); ohne diesen verbissenen Zug im Gesicht, aus dem sich Anstrengung und Wut lesen ließen. Erst, wenn sie stand, ging es besser; wenn sie herumlief, merkte man nichts.
    Aber Tee zu machen gehörte sowieso nicht zu ihren Aufgaben, schon wegen des Aufstehens. Bisher hatte das immer Margit getan, wie die meisten häuslichen Verrichtungen. Sie beklagte sich nicht darüber, sie hatte sich nie darüber beklagt. Sie war die Ältere und musste auf die jüngere Schwester aufpassen, schon im Kindesalter war das so gewesen; beide Eltern auf der Arbeit, der Vater in seinem Geschäft, die Mutter im Büro. Durch das Doppeleinkommen und eiserne Sparerei war es zu dem Haus gekommen und zu dem Vermögen . Kaserers waren vermögend . Das Geschäft war bis zum Zerfall der Textilindustrie gut gelaufen, da hatte sich Geld angehäuft, das der Vater wieder investierte. Richtig investierte, so dass es langfristige Erträge abwarf. Leider nicht genügend hohe … Margit Kaserer verlor sich in Gedanken. Das brachte nichts. Wenn sie damit anfing, begann die Hätte-wäre -Phase. Unweigerlich. Das musste sie vermeiden, weil sie dann von einer Bitterkeit erfüllt wurde, die ihr den Lebensmut raubte, aber keinen einzigen positiven Effekt brachte. Hätte sie doch damals den Edi geheiratet, dann wäre sie heute Hunderte Kilometer von Marie entfernt (Edi war nach Wien gezogen und hatte einen erfolgreichenElektronikladen aufgemacht); dann hätte eben mit ihrer Schwester alles ganz anders organisiert werden müssen. Mit der Betreuung und allem. Es war ja nicht so, dass Marie hilflos war, sie brauchte nur jemanden um sich, der sich kümmerte, wenn sie Anfälle hatte. Der sie betreute, wenn es einmal wieder abwärtsging. Bisher war es dann jedes Mal auch wieder aufwärtsgegangen.
    Der Tumor in Maries Kopf stand still.
    Als ob er schliefe. Manchmal räkelte er sich im Schlaf, dann spürte Marie das. Epileptische Anfälle, Schwindel, Krankheitsgefühl, dann konnte sie fast nichts tun und musste umhegt werden. Dann wieder wochenlang: nichts. An der Tomografie, die regelmäßig durchgeführt wurde, sah man keine Veränderungen. Maries Tumor schien zu schlafen oder vor sich hin zu dösen, unschlüssig, was er machen sollte. Weiterwachsen und die Frau umbringen oder sich dem Nichtstun ergeben …
    In den letzten zwei Monaten war es Marie relativ gutgegangen, kein Schwindel, keine

Weitere Kostenlose Bücher