Das unsagbar Gute
Anfälle. Sie konnte mit zum Einkaufen, Hausarbeit machen, spazieren gehen. Ohne diese relative Ruhephase wäre Margit gar nicht auf die Idee mit der Erpressung gekommen, so komplizierte Aktivitäten verboten sich von selbst, wenn es Marie schlechtging. Und ohne das Finanzielle hätte sie diese Idee vielleicht gehabt, aber nicht verfolgt. Sie brauchten das Geld. Sie brauchten es einfach. Sie hatten beide vom Erbe gelebt, aber in den letzten Jahren in den Boomphasen aufs falsche Pferd gesetzt und viel an der Börse verloren. Das war Margits schwacher Punkt, das Spekulieren. Und sie hatten Scharlatanen einen Haufen Geld in den Rachen geworfen. Das war Maries schwacher Punkt. Der Glaube an Wunderheiler. Sie glaubte jetzt noch daran. Ohne die Anstrengungen diverser Heiler wäre sie schon lange tot, behauptete sie. Margit konnte nichts dagegen sagen. Sie glaubte es nicht, aber sie hatte keinen Beweis für ihren Zweifel.
Marie kam mit dem Tee zurück.
»Wie geht es dir heute?«, fragte Margit. Das tat sie selten. Es war ein Code. Wie geht es dir heute? bezog sich auf den Tumor und nur auf diesen, hatte nichts zu tun mit dem Allgemeinbefinden gesunder Leute und ihren Wehwehchen. Margit fragte das nicht oft. Man soll keine schlafenden Hunde wecken. Sie fragte nur, wenn es ihrer Schwester schlechter als üblich zu gehen schien (häufig) oder besser (selten).
»Danke«, sagte Marie und stellte das Tablett mit den Tassen auf dem Wohnzimmertisch ab. »Heute geht es gut. Ich spür nichts. Warum fragst du?«
Auch das war ein Ritual. Marie wusste genau, warum Margit fragte. Aber sie wollte es von ihr hören.
»Du machst einen guten Eindruck heute«, sagte Margit, »kommt mir so vor …« Marie freute sich. Sie setzte sich und trank ihren Tee. Gesprochen wurde nichts mehr. Das war so seit der Begegnung mit Dr. Nowak am »Kirchle«. Davor hatten sie den ganzen Tag miteinander geredet, meistens gestritten, aber nach der Sprühaktion des Chemikers war das vorbei. Sie konnten nebeneinander sitzen ohne Unruhe. Und ohne zu reden. Ohne, dass es peinlich oder belastend wurde. Margit hing ihren Gedanken nach. Ob es Marie auch so ging, wusste sie nicht, Marie sprach nicht darüber und Margit fragte nicht danach. Sie ließ es einfach gut sein. Wir lassen es gut sein, dachte sie, alle beide, wahrscheinlich ist es das. Gut. Sie hatten die Veränderungen der inneren Einstellung nicht erörtert. Wie geschwollen sich das anhört, dachte sie. Schon daran konnte man sehen, wie schwierig es wäre, darüber zu sprechen. Pathetisch. Wir sind gute Menschen geworden! Aber wie sonst sollte man das ausdrücken? Das Auge Gottes . Das war noch pathetischer. Obwohl es genau das war: Sie hatte das Auge Gottes gesehen. Was Marie gesehen hatte mit der Überdosis vom Dr. Nowak, wusste sie nicht, Marie hatte nichts dazu gesagt. Siewollte nicht davon sprechen. Nur genickt hatte sie, als Margit meinte, die Idee mit der Erpressung sei wohl eine Schnapsidee gewesen. Wie jemand nickt, den man an eine länger zurückliegende peinliche Episode erinnert, deren Folgen nun der Betreffende korrigieren muss – ja, ja, ist schon gut, ich bin nicht stolz darauf, ich bring’s in Ordnung, können wir jetzt das Thema wechseln? Also nahm Margit an, Marie empfände so wie sie selber, denn genau das war diese kriminelle Aktion: peinlich. Falsch. Nicht im moralischen, sondern im … im … ästhetischen Sinn. Als ob sie sich alkoholisiert irgendwie zum Narren gemacht hätten; Karaoke ohne nur im mindesten singen zu können. So zum Narren gemacht, dass sogar den Zuhörern das Lachen vergangen war. Wegen eines Schamanfalls.
Wir sind jetzt gute Menschen, dachte Margit, das heißt, normale Menschen. Gut ist normal, normal ist gut. Dr. Nowak war auch gut. Er würde ihnen die Dreißigtausend für die Renovierung geben. Wenn er die nächste Charge seiner Substanzen verkauft hatte.
Marie hatte die Augen geschlossen. Sie nickte jetzt manchmal in ihrem Sessel ein. Das hatte sie vorher nicht getan. Margit stand ohne Geräusch auf und ging in die Küche. Gemüseeintopf heute Mittag. Eine Menge Gemüse musste geputzt werden. Die Küche war so klein, dass nur eine Person darin arbeiten konnte, wenn man sich nicht dauernd in die Quere kommen wollte. Und dunkel war sie auch. Ein Fenster nach Norden. Margit blickte auf die abgewetzten Stellen des PVC-Belags und die angestoßenen Kanten an Schrank, Tisch und Stühlen. Die Küche sah so aus wie das ganze Haus. Sechziger Jahre, auf Kante
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