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Das unsagbar Gute

Das unsagbar Gute

Titel: Das unsagbar Gute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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oben schmalen Erlenmeyerkolben sind mit ihrem Sanduhrquerschnitt zum grafischen Symbol für alles »Chemische« geworden; die Rundkolben schließlich können nur in angepassten Korkringen stehen und nicht umfallen. Zwar: Der gemeine Wald-und-Wiesen-Idiot kann alles umschmeißen, aber Sami gehörte nicht dazu. Deshalb war der Schrei des Entsetzens, der sich Dr. Nowaks Kehle entrang, als er Sami zur halboffenen Tür hereinkommen sah, unnötig, unangebracht und in dem Sinne kontraproduktiv, als er Sami zutiefst erschreckte (der Schrei) und ihn dazu veranlasste, eine erhöhte Position aufzusuchen, also sprang er auf einen Tisch. Es ist dies aber nur eine Interpretation seines Verhaltens, für die wir uns nicht verbürgen können. Was im Kopf einer Katze vor sich geht, bleibt in Wahrheit unergründlich wie die Wege des Herrn.
    Zu Zeiten der Frau Dr. Leupold selig war Sami oft im Labor gewesen, diese Katzenkennerin hatte nichts dabei gefunden, weil sie ihrem Kater jene Vernunft zutraute, die er wahrscheinlichauch besaß. Es war nie etwas vorgefallen. Der absolut katzenignorante Dr. Nowak war kurz vor einem Panikanfall und versuchte mit »Weg!« und »Raus!« und »Geh!« und, ach ja, mit »Husch!« (Husch! Man glaubt es kaum …) – versuchte also den Kater mit diesen inferioren, eines Akademikers unwürdigen Lautäußerungen, begleitet von Armgefuchtel, zu vertreiben. Bei einem Krokodil hätte er damit mehr erreicht, vermutlich auch bei einem Kamel. Aber nicht bei Sami. Der strich, ohne Dr. Nowak auch nur eines Blickes zu würdigen, zwischen den Gegenständen auf dem breiten Tisch herum, blieb dann stehen und leckte sich die Vorderpfoten. Wir dürfen darin eine Verlegenheitshandlung sehen, wie das intensive Suchen nach Handy oder Taschentuch, wenn wir Zeuge einer unglaublichen Peinlichkeit eines Mitmenschen werden müssen, und der Boden, auf dem wir gerade stehen, wegen seiner Dichte und Festigkeit sich weigert, uns darin versinken zu lassen. Dr. Nowak, immerhin ein göttliches Wesen im Katzenuniversum, benahm sich in hohem Maße peinlich, unwürdig und ungöttlich, zwang Sami geradezu, irgendetwas zu tun, was ihn so in Anspruch nahm, dass er nachher glaubhaft versichern könnte, gar nichts bemerkt zu haben … Nahrungsaufnahme ist für Katzen eine solche, alle Aufmerksamkeit absorbierende Tätigkeit. Weil es sich um Verlegenheitstun handelt, braucht das Fressen auch nur angedeutet zu werden; das Auflecken imaginärer oder tatsächlicher Krümel vom Boden eignet sich dazu besonders. Und Krümel gab es auf dem Tisch reichlich; sie lagen in winzigen Schälchen, die eine Reihe am hinteren Rand bildeten.
    Dr. Nowak erstarrte. »Nicht«, sagte er. »Nicht …!« Laut kam das nicht mehr, die Stimme versagte ihm. Der weiße Kater schnüffelte an den Proben, die er noch einmal umkristallisieren und besonders rein für das NMR darstellen wollte. Er wagte nicht, näher an das Tier heranzugehen; der Kater würde dann sonst was anstellen, was er jetzt schon machte, war schlimm genug.Der Puls schlug in den Hals. Er zwang sich zu Ruhe. Okay, was konnte passieren? Dass die Katze von dem Zeug fraß. Es war ungiftig, das hatten die Versuche an den Ratten gezeigt. Das heißt, an diesen Substanzen hatten die Ratten das noch nicht gezeigt, die waren ganz neu und existierten im Augenblick nur in Keller der Leupold-Villa in Dornbirn und sonst nirgends im Universum, aber wegen der Toxizität war der Analogieschluss erlaubt: Die bisher getesteten Verwandten waren alle ungiftig gewesen. Relativ. Na ja.
    Er konnte die Proben wegschmeißen, wenn die Katze daran geleckt hatte, das war klar. Er müsste die Arbeitsschritte der Vorreinigung bei allen vierunddreißig Proben wiederholen, eine Riesenarbeit, das schon. Aber schuld war er selber. Er hatte die Tür offen gelassen, ganz einfach. Dass der Kater ab und zu sein früheres Domizil aufsuchte, war zu erwarten gewesen. Dr. Nowak beruhigte sich, der Puls im Hals war nicht mehr spürbar, er durfte nur kein Drama aus der Sache machen, die Proben würden dem Kater nicht schmecken, bald würde er das Interesse verlieren. Sie schmeckten ihm tatsächlich nicht, er roch nur dran, das konnte er deutlich sehen.
    Der Kater ging alle Schälchen durch. Systematisch.
    Bei einer verweilte er länger. Nummer siebzehn. Der Kater kauerte sich hin, hielt die Nase an die Substanz, begann zu schnurren. Es klang wie eine langsam laufende Maschine. Jetzt erschien die rosa Zungenspitze im weißen Mäulchen. »Nein,

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