Das unsagbar Gute
aus Versehen ein etwas größeres Korn in den Mund bekommen – und nichts davon bemerkt, weil die Substanz eine leichte Betäubung der Mundschleimhaut hervorgerufen hatte? Während der Tat war ihm seine Handlungsweise so selbstverständlich vorgekommen, dass er sich erst nach ein paar Minuten die Frage stellte: Moment, bin ich durchgedreht? Ich hab gerade das Präparat siebzehn mit der Zunge geprüft. Wieso? Wieso, um alles in der Welt, hab ich das getan?
Er setzte sich auf einen Stuhl. Im Kellerlabor war alles wie immer. Die Neonlampe brannte. Der vermaledeite Kater saß schon wieder auf dem Tisch. Wie war er da raufgekommen? Dr. Nowak hatte ihn nicht springen sehen. Puls zweiundsiebzig, wie er mit der Hand an der Karotis maß. Also normal. Keine ungewöhnlichen Empfindungen. Die Substanz »konnte« etwas, so nannte man das bei den Adepten der pharmazeutischen Chemie. Was sie »konnte«, ließ sich noch nicht absehen, eine Wirkung auf das Nervensystem war nach den Reaktionen des Katers aber wahrscheinlich. Allerdings: Diese Wirkung schien zeitlich sehr beschränkt, das Tier verhielt sich wieder völlig normal. Nicht wie beim berüchtigten Kurzzeitnarkotikum Phencyclidin, das die damit behandelten Hunde dazu veranlasst hatte, Personen anzubellen, die gar nicht da waren. Bis im psychedelischen Klima der Sechziger irgendein Acidhead auf die Idee gekommen war, das Zeug selber einzuwerfen, was die Substanz unter der Bezeichnung »angel dust« ihre Karriere als Horrordroge Nummer eins beginnen ließ. Ein Stoff, von dem man klinisch verrückt werden konnte. Entwickelt zum Ruhigstellen in der Veterinärmedizin.
Aber das war alles Unsinn. Chemisch war er mit seinen Derivaten von Phencyclidin so weit entfernt wie die Erde vom Mond …wie kam er jetzt auf diesen Vergleich? Beginnende Gedankenflucht? Blödsinn. Natürlich fiel jedem Chemiker und Pharmakologen bei diesem Thema der gute Albert Hoffmann ein, der im Jahre 1943 nach einem Selbstversuch mit dem von ihm synthetisierten LSD zwei Tage total high rumgelaufen oder -gefahren war. Mit dem Fahrrad. Abgefahren im Wortsinn. Dr. Nowak lachte. Nein, in die Nähe kam er nicht. Als Wissenschaftler hatte er an Drogen kein Interesse, an solchen aus der Psychoabteilung kein Interesse zum Quadrat. Er musste sich schwer zusammenreißen, seine Abneigung nicht zu sehr auf seinen gegenwärtigen Brotberuf wirken zu lassen: der Synthese genau jener psychoaktiven Substanzen, die er verabscheute. Natürlich nicht die Substanzen an sich, sondern die Konsumenten. Die Chemie wurde gewissermaßen durch den Menschen beschmutzt … was heißt hier: Menschen? Sollte man Wesen, die unter einem flachen Stein hervorkriechen, tatsächlich so nennen?
»Sei nicht so selbstgerecht.«
»Ich bin nicht selbstgerecht. Ich bin nur realistisch. Auch typisch: Wenn man was gegen das Weichzeichnermenschenbild sagt, ein Zerrbild wohlgemerkt, wird gleich ad personam argumentiert …« Dr. Nowak lachte auf. Dann verstummte er.
Große Stille breitete sich aus. Man hätte nun eine Uhr ticken hören können, aber in dem Kellerlabor gab es keine Uhr. Dr. Nowak wurde es unbehaglich. Etwas stimmte nicht, etwas Grundsätzliches. Er hatte einen verbalen Angriff abgewehrt, obwohl er sich das schon seit langem abgewöhnt hatte, es brachte ja nichts, gar nichts, diese Leute sind ideologisch verblendet durch ihren Pseudohumanismus … immerhin war der hier jetzt still, ungewöhnlich eigentlich; durch Widerspruch reizt man die Menschen erst recht zur weiteren Suada, bla, bla, bla … Moment … Moment.
Wer war still?
Anders rum: Wer hatte vorher gesprochen? Sei nicht so selbstgerecht. Dr. Nowak drehte sich auf dem Stuhl zur Tür um. Ging nur langsam, vielleicht doch eine gewisse Beeinträchtigung der Motorik durch Nummer siebzehn … an der Tür war niemand.
»Manfredo!«, rief er. »Manfredo! Bist du das?«
»Nein. Manfredo ist noch in Wien.«
»Ach so. Ja dann …«
Dr. Nowak drehte sich wieder zurück. Sehr langsam. Die Bewegung fiel ihm schwer. Nummer siebzehn. Also doch eine stärkere Wirkung. Aber die Bewegungshemmung war nicht das Problem. Das Problem saß auf einer Ecke des Labortischs. Ich sollte Angst haben, dachte Dr. Nowak. Den Verstand zu verlieren. Aber ich habe keine Angst. Obwohl:
Der Kater spricht zu mir.
»Ja« , sagte der Kater Sami, »ich spreche zu dir.«
Später, viel später, versuchte Dr. Nowak sich an die Stimme des Katers zu erinnern, aber diese Erinnerung war gelöscht, er
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