Das unsichtbare Grauen
zu der Stelle neben der Latschenkiefer, wo die Schrittspuren endeten und das Paar Ski lehnte. Unwillkürlich stieß sie einen kleinen Ruf der Überraschung aus.
Die Ski waren verschwunden!
Die Fußabdrücke aber setzten sich plötzlich als Skispur fort. Wo eben noch absolut nichts im silbern glitzernden Schnee gewesen war, zog sich jetzt wie ein Schienenpaar in sanften Bogen die Gleitspur der Ski, die hier an der verkrüppelten Latschenkiefer gelehnt hatten, durch die Landschaft. Während Sandra mit Ludmilla gesprochen hatte, mußte der Unbekannte die Bretter angeschnallt und sich auf den Weg in die Mondnacht gemacht haben.
Es war wirklich rätselhaft. Wo hatte er sich während der vergangenen Minute verborgen? Das Mondlicht war so hell, daß Sandra ihn hätte sehen müssen. Sie verstand das alles nicht. Aber sie war entschlossen, herauszufinden, was dahintersteckte. Vorsichtshalber vergewisserte sie sich, ob sie hinreichend ausgerüstet war. Der Ministrahler war in der Armbanduhr am Handgelenk untergebracht, und in ihrem Ski-Overall verstaut war der Hochdruck-Spezialspray, mit dem sie einen in Sekundenschnelle betäubenden Sprühnebel abschießen konnte, der bis auf 5 Meter Entfernung wirkte. Ein normaler Revolver gehörte ebenfalls dazu, aber Sandra benützte ihn nicht gern.
Mit energischen Schwüngen glitt die Agentin voran, deckungsgleich auf der Spur des Unbekannten, der sich in ihr Zimmer geschlichen hatte und sie nun auf rätselhafte Weise zum Narren hielt, indem er auf Skiern durch die Mondnacht sauste, immer außer Sichtweite; denn sehen konnte ihn Sandra nicht, obwohl die Sicht gut einen Kilometer weit war.
Nach einigen Minuten sausender Fahrt erkannte Sandra das Ziel der seltsamen Reise - die Talstation des Skilifts!
Es war nur ein kleiner Lift: ein Häuschen, in dem sich Antrieb und Kassenschalter befanden, um diese nächtliche Stunde natürlich außer Betrieb und geschlossen.
Sollte man wenigstens meinen. Aber dem war nicht so! Das Aggregat lief, der Skilift bewegte sich ... Die Sitze pendelten am Tragseil langsam bergan ... Der Unbekannte mußte den Lift eingeschaltet haben und war nun weit voraus am Berg, auch wenn Sandra ihn nicht sehen konnte.
Sie zögerte nicht, sondern stellte sich in Position und ließ sich von einem der Sitze anheben und emportragen. Sie wußte, welches Risiko sie einging. Niemand war unterrichtet darüber, wo sie war und was sie vorhatte. Niemand konnte ihr helfen, falls es gefährlich wurde. Sie befand sich in unwegsamem, ihr außerdem völlig unbekanntem Gelände. Eine Mondnacht in 1000 Metern Höhe, irgendwo in den Schweizer Alpen, vor ihr ein unbekannter Gegner! Der Gegner, der erstens so gefährlich war, weil total unbekannt, und der zweitens eine noch größere Gefahr darstellte, weil die Britin nicht wußte, was er eigentlich wollte.
Das war die Frage, die sich Sandra King immer wieder stellte, während sie 10 Meter über der Schneedecke bergan fuhr. War es der gleiche Unbekannte, der ihrem Hotelzimmer im »Baur au Lac« einen Besuch abgestattet und den sie dann bis ins Apartmenthaus am Klöpli verfolgt hatte, ohne ihn stellen zu können? War es der gleiche Unbekannte, der einen zum Tod Verurteilten in Paris gerettet und einen gefährlichen Räuber und Killer in München ans Messer geliefert hatte? Der außerdem ein junges Mädchen namens Maria Gonzales vor einem bösen Schicksal in einem mexikanischen Freudenhaus bewahrt hatte?
Die Agentin wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie herausfinden mußte, was hier eigentlich gespielt wurde. Und darum fuhr sie in einem von unbekannter Hand mitten in der Nacht eingeschalteten Skilift der Bergstation entgegen, die sich oberhalb bereits abzeichnete und die nur noch wenige Minuten entfernt war.
Merkwürdig - aber mit einem Mal durchzuckte sie ein seltsamer, ein völlig absurder Gedanke: Wenn dieser Unbekannte nun unsichtbar war? Wenn er eine Möglichkeit gefunden hatte, sich dem menschlichen Auge zu entziehen?
Vor einer Erfindung dieser Art hatte sie bisher keinerlei Kenntnis bekommen. Mehr als unwahrscheinlich, daß es so etwas gab. Und dennoch - würde das nicht alles mit einem Schlag erklären?
Sandra King hatte ein stark analytisch ausgeprägtes Gehirn und konnte in kürzester Zeit für und wider abwägen.
Die Argumente, die gegen eine solche Tatsache sprachen, waren stärker. Unsichtbar, das gab es nicht! Noch nicht, um genau zu sein...
Sie riß sich entschlossen
Weitere Kostenlose Bücher