Das Unsterblichkeitsprogramm
Abends zum Ausgehen fertig machten und Ludmila ihnen etwas in den Kaffee tat. Als sie gelähmt, aber durchaus noch bei Bewusstsein waren, fuhr sie mit ihnen zu Mitcham’s Point hinaus und warf sie nacheinander in die Dreschtanks. Es heißt, dass man die Schreie bis zur anderen Seite des Sumpfes hören konnte.«
»Hm-hmmm.«
»Natürlich schöpfte die Polizei Verdacht…«
»Tatsächlich?«
»… aber man konnte ihr nichts nachweisen. Ein paar ihrer Kinder hatten mit unangenehmen Chemikalien gedealt und sich mit der einheimischen Yakuza angelegt, sodass es im Grunde niemanden überraschte, als sie plötzlich verschwunden waren.«
»Hat diese Geschichte auch eine Pointe?«
»Ja. Sehen Sie, Ludmila war nun zwar ihre ungezogenen nutzlosen Kinder los, aber damit war ihr auch nicht geholfen. Sie brauchte trotzdem jemanden, der die Bottiche betreute, der den Belatang die Treppen der Fabrik rauf und runter schleppte, aber sie war immer noch pleite. Was hat sie also getan?«
»Etwas Blutrünstiges, vermute ich.«
Ich nickte. »Sie holte die Stücke ihrer zerfleischten Kinder aus dem Drescher und nähte sie zu einem gewaltigen drei Meter hohen Kadaver zusammen. Und in einer Nacht, die den dunklen Mächten heilig war, rief sie einen Tengu an, der…«
»Einen was?«
»Einen Tengu. Das ist irgend so ein übel wollender Geist, ein Dämon, könnte man vermutlich sagen. Sie rief ihn an, den Kadaver zu beleben, und dann nähte sie den Tengu ein.«
»Wie? Als er gerade nicht hingesehen hat?«
»Ortega, es ist ein Märchen. Sie nähte also die Seele des Tengu in den Kadaver, aber sie versprach, ihn wieder freizulassen, wenn er ihr neun Jahre lang gute Dienste geleistet hatte. Die Neun ist eine heilige Zahl im Pantheon der Harlaniten, also war die Vereinbarung für sie genauso bindend wie für den Tengu. Bedauerlicherweise…«
»Aha.«
»… sind Tengu nicht für ihre Geduld bekannt, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es angenehm war, für die alte Ludmila zu arbeiten. Eines Nachts, als noch nicht einmal ein Drittel der Zeit abgelaufen war, stürzte sich der Tengu auf sie und zerriss sie. Manche behaupten, dafür wäre Kishimo-jin verantwortlich gewesen. Sie soll den Tengu mit schrecklichen Flüchen aufgehetzt haben…«
»Kishimo-Gin?«
»Kishimo-jin, die göttliche Beschützerin der Kinder. Es war ihre Rache für das, was Ludmila ihren Kindern angetan hatte. Das ist eine Version der Geschichte. In einer anderen…« Ich bemerkte Ortegas rebellischen Gesichtsausdruck und riss mich zusammen. »Auf jeden Fall wurde sie vom Tengu zerfetzt, doch dabei verstrickte er sich in den Fluch und war nun dazu verdammt, für immer im Kadaver gefangen zu bleiben. Und nachdem die ursprüngliche Beschwörerin tot und – was noch viel schlimmer war – einem Verrat zum Opfer gefallen war, begann der Kadaver zu verwesen. Zuerst hier ein Stück, dann dort ein Stück, aber es war unausweichlich. Also war der Tengu gezwungen, durch die Straßen und Fabriken des Textilviertels zu streifen und nach frischem Fleisch zu suchen, um die verwesten Teile seines Körpers zu ersetzen. Er tötete ausschließlich Kinder, weil die Teile, die er benötigte, Kindergröße hatten. Doch ganz gleich, wie oft er neues Fleisch an den Kadaver nähte…«
»Inzwischen hatte er also das Nähen gelernt?«
»Tengu sind sehr vielseitig begabt. Ganz gleich, wie oft er sich Ersatz beschaffte, nach ein paar Tagen fingen auch die neuen Teile an zu faulen, und er musste wieder auf die Jagd gehen. In der Gegend nennt man ihn den Patchwork-Mann.«
Ich verstummte. Ortegas Mund bildete ein lautloses O, durch das sie langsam den Rauch ausatmete. Sie beobachtete, wie sich die Wölkchen auflösten, dann sah sie mich an.
»Hat Ihnen diese Geschichte Ihre Mutter erzählt?«
»Mein Vater. Als ich fünf war.«
Sie betrachtete das Ende ihrer Zigarette. »Nett.«
»Nein. Er war nicht nett. Aber das ist eine andere Geschichte.« Ich stand auf und blickte die Straße hinunter, wo sich die Menge vor einer der beiden Barrieren drängte. »Kadmin ist irgendwo da draußen, und er ist außer Kontrolle. Wir wissen immer noch nicht, für wen er gearbeitet hat, aber jetzt arbeitet er nur noch für sich allein.«
»Wie?« Ortega breitete verzweifelt die Hände aus. »Okay, eine KI könnte sich in den Stack der Polizei von Bay City tunneln. Das will ich einräumen. Aber hier geht es um Vorgänge im Mikrosekundenbereich. Wenn es länger dauern würde, hätten von hier bis
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