Das Unsterblichkeitsprogramm
eines anderen Zeitalters.
Der Reinigungsroboter rollte davon, und ich wandte mich wieder den Graffiti zu. Das meiste war in Amenglisch oder Spanisch, uralte Witze, die ich schon an hundert ähnlichen Orten gesehen hatte. Cabron Negado! oder Absent without Sleeve! oder Lieber im Stack drecken als im Dreck stacken!
Aber oben auf der Rückenlehne der Bank stand kopfüber eingeritzt, wie eine winzige Oase der verkehrten Ruhe inmitten all der Wut und des verzweifelten Stolzes ein seltsames Haiku in Kanji:
Zieh das neue Fleisch an wie geborgte Handschuhe
Und verbrenn dir abermals die Finger.
Der Verfasser musste sich von hinten über die Bank gebeugt haben, als er die Zeilen ins Holz geschnitten hatte; trotzdem war jedes Zeichen mit eleganter Sorgfalt ausgeführt worden. Ich starrte die Kalligrafie an, vermutlich eine ganze Weile, während die Erinnerungen an Harlans Welt wie straff gespannte Stromkabel in meinem Kopf sangen.
Ein plötzlicher Schrei rechts von mir riss mich aus meiner Träumerei. Eine junge schwarze Frau mit zwei Kindern, ebenfalls schwarz, starrten einen gebeugten Weißen mittleren Alters an, der im zerlumpten Arbeitsanzug aus UN-Beständen vor ihnen stand. Eine Familienzusammenführung. Das Gesicht der jungen Frau war eine schockierte Maske, obwohl sie sich der Tatsache noch gar nicht in vollem Umfang bewusst geworden war, und das kleinere Kind, wahrscheinlich kaum älter als vier Jahre, verstand überhaupt nichts. Sie starrte durch den Weißen hindurch, während ihr Mund immer wieder lautlos die Frage Wo ist Daddy? Wo ist Daddy? formulierte. Die Gesichtszüge des Mannes glänzten im regnerischen Licht, das durch das Dach kam – er sah aus, als hätte er geweint, seit man ihn aus dem Tank gezerrt hatte.
Ich drehte den Kopf zu einem leeren Quadranten des Saals. Mein Vater war einfach an seiner wartenden Familie vorbeigegangen und aus unserem Leben getreten, als er resleevt wurde. Wir hatten nicht einmal gewusst, wer er war, obwohl ich mich manchmal frage, ob meine Mutter nicht ein winziges Aufblitzen des Wiedererkennens in einem abgewandten Blick bemerkt hatte, irgendein Echo seiner Haltung oder seines Gangs, als er an uns vorbeigelaufen war. Ich weiß nicht, ob er sich zu sehr geschämt hatte, um uns unter die Augen zu treten. Wahrscheinlich war er einfach nur überglücklich gewesen, einen gesünderen Sleeve als seinen vom Alkohol ausgezehrten alten Körper erhalten zu haben, und hatte längst einen neuen Kurs auf andere Städte und jüngere Frauen gesetzt. Damals war ich zehn gewesen. Ich hatte es erst gemerkt, als die Angestellten uns am späten Abend aufforderten, das Gebäude zu verlassen, weil sie schließen wollten. Wir waren seit Mittag da gewesen.
Der leitende Angestellte, der sich um uns kümmerte, war ein älterer Mann, der eine besänftigende Art hatte und sehr gut mit Kindern umgehen konnte. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sprach in freundlichem Tonfall zu mir, bevor er uns nach draußen führte. Vor meiner Mutter vollführte er eine knappe Verbeugung und murmelte etwas Förmliches, um ihren Staudamm der Selbstbeherrschung nicht zu zerstören.
Vermutlich hatte er jede Woche mit mehreren Leuten zu tun, denen dasselbe passierte.
Ich prägte mir Ortegas Zielcode ein, um meinen Geist zu beschäftigen, dann riss ich den Teil von der Zigarettenschachtel ab und aß ihn auf.
Meine Kleidung war fast getrocknet, als Sullivan aus dem eigentlichen Gebäude in die Halle trat und die Treppe hinunterlief. Seine magere Gestalt war in einen langen grauen Regenmantel gehüllt, und dazu trug er einen Hut mit Krempe, etwas, das ich bisher noch nicht in Bay City gesehen hatte. Im Rahmen des V, das meine hochgelegten Füße bildeten, zoomte ich ihn mit dem Neurachem heran. Sein Gesicht wirkte blass und übermüdet. Ich setzte mich auf der Bank zurecht und streifte mit den Fingerspitzen die im Holster steckende Philips. Sullivan kam genau auf mich zu, doch als er mich bemerkte, verzog er missbilligend die Mundwinkel und änderte den Kurs, um dem mutmaßlichen Obdachlosen auszuweichen, der sich in seiner sauberen Einrichtung breit gemacht hatte. Er ging an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Ich gab ihm ein paar Meter Vorsprung, dann erhob ich mich lautlos und folgte ihm, während ich unter dem Mantel die Philips aus dem Holster zog. Ich holte ihn ein, als er gerade den Ausgang erreicht hatte und sich vor ihm die Türen öffneten. In diesem Moment versetzte ich
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