Das Urteil
etwas in den Magen kriegen.«
»Ich weiß, aber ich habe mir gedacht...«
»Na, Klasse, du hast dir was gedacht. Du strengst dich an. Ich weiß das zu schätzen. Aber ich bin am Verhungern. Laß uns einfach gleich essen, klar?«
Sie trat einen Schritt zurück, nicht zu weit, nicht, als ob sie den Rückzug antreten wollte. »Das Essen ist in ein paar Minuten fertig, Schatz.«
Er machte halt. »Was soll das heißen, in ein paar Minuten? Ich komm zur Tür rein, und es gibt kein Abendessen? Ich schufte den ganzen Tag und komme heim, und es gibt kein Abendessen?«
»Larry, das Abendessen war vor einer Stunde fertig. Ich wußte ja nicht, daß du dich so verspäten würdest...«
»Ach, jetzt habe ich mich also verspätet. Und irgendwie habe ich das Abendessen verpatzt. Irgendwie ist alles meine Schuld.«
»Nein, Larry, das stimmt nicht. Es muß nur aufgewärmt werden, es ist alles fertig. Warum trinkst du nicht einfach deinen Whisky? Ich ruf dich in ein paar Minuten.«
Sie konnte den alten Reis nehmen. Ein Glück, daß sie ihn nicht weggeworfen hatte. Vielleicht würde Larry es gar nicht merken. Und wenn sie den Spargel sofort aufsetzte und das Fleisch auf etwas höherer Stufe in die Mikrowelle schob, dann sollte alles in fünf Minuten fertig sein, vielleicht noch schneller.
Sie sah, daß er die Zähne zusammenbiß, die Faust ballte. Die Faust öffnete, ballte, öffnete, ballte. Sie zuckte zusammen und wich nach hinten aus, lächelte ihm dann rasch zu, als sie merkte, was sie tat. »Wirklich«, sagte sie, »fünf Minuten. Das geht ruckzuck. Versprochen. Laß dir den Drink schmecken.«
Er wandte den Blick nach unten, besah sich das Glas. »Erzähl mir nicht, was ich tun soll, Jenn, klar? Den ganzen Tag lang liegen mir die Patienten in den Ohren mit ihren Ansich ten über Dinge, von denen sie absolut keinen Schimmer haben. Klar?«
»In Ordnung, Larry, in Ordnung. Tut mir leid.«
Er schüttelte den Kopf. »Und bitte hör auf, in einer Tour zu sagen, daß es dir leid tut.«
»In Ordnung.« Sie wollte schon wieder sagen, daß es ihr leid tue, und beherrschte sich gerade noch rechtzeitig.
Er nippte an seinem Drink. Und er hatte aufgehört, die Faust zu ballen. Es sah so aus, als ob es klappen würde.
Ein Aufschub.
Diesmal.
Vielleicht.
1
An dreiundvierzig Werktagen in Folge hatte Dismas Hardy Anzug und Krawatte angelegt und sich unverdrossen auf den Weg in sein Büro in der Innenstadt gemacht, das er angemietet hatte. Das Büro war ein vorläufiger Schritt, nichts Verbindliches. Hardy war einfach noch nicht bereit, für eine der großen Anwaltskanzleien zu arbeiten - zumindest jetzt noch nicht, nicht ohne zunächst einmal zu versuchen, ob er sich nicht selbständig machen und seinen Lebensunterhalt mit Aufträgen als Jurist verdienen konnte.
Er bekam allmählich Zweifel, ob er es packen würde.
Sein Vermieter war David Freeman, genau wie er ein Rechtsanwalt, der ein Kanzleischild hatte anbringen lassen, um sein Glück zu versuchen - mit dem Unterschied, daß Freeman es geschafft hatte. Sechzig Jahre alt und kerniger als das Sauerteigbrot, das es in San Francisco zu kaufen gab, war der alte Mann in der Stadt zur Legende geworden. Heute hing sein Kanzleischild, eine polierte Messingtafel mit der Aufschrift David Freeman & Associates, an der Vorderfront des Freeman Building, eines eleganten vierstöckigen Gebäudes in der Sutter Street im Herzen des Bankenviertels.
Freeman und Hardy hatten sich vor einem Jahr als Gegner in einem Mordprozeß kennengelernt. Bevor der Prozeß vorbei war, hatten sie nicht ohne anfänglichen Widerwillen eine gewisse Bewunderung füreinander entwickelt, und zwar aufgrund gemeinsamer Charaktereigenschaften - einer bestimmten halsstarrigen Unbeirrbarkeit, einem Hang zur Mutwilligkeit, was die Spielregeln der Juristerei anging, einer Leidenschaft fürs Detail, einem persönlichen Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Die Bewunderung hatte sich allmählich zur Freundschaft entwickelt.
Im Lauf der darauffolgenden Monate hatte Freeman Hardy dezent umworben, indem er ihm Ratschläge über die Haken und Ösen des Lebens in den großen Anwaltskanzleien erteilte.
Na klar, das Geld stimmte, und zwar nicht zu knapp, aber da war auch der ermüdende Papierkram, die lästige Pflicht, Woche für Woche vierzig anrechenbare Stunden runterreißen zu müssen, die Abhängigkeit von irgendeinem Sozius, dem man den Hintern küssen mußte (und der höchstwahrscheinlich jünger war als Hardy mit seinen
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