Das Urzeit-Monstrum
tatsächlich als Kreatur der Finsternis entpuppen, dann war es keine Befreiung im eigentlichen Sinne mehr, dann mußte dieses Wesen eben vernichtet werden. Der Atem kondensierte vor unseren Lippen. Die Füße bewegten sich über den gefrorenen Boden, und die Dämmerung hatte sich mittlerweile wie ein Dieb herangeschlichen.
Uns kam dies gelegen, so wurden wir auf eine gewisse Art und Weise geschützt und konnten uns dem Haus ungesehen nähern, denn die wenigen Lichtinseln waren leicht zu umgehen.
Manchmal überholte uns ein Auto. Die Fahrer rollten sehr langsam durch den Ort.
Die meisten suchten sowieso nach irgendwelchen Parkplätzen für ihre Autos, denn allmählich begann die Zeit der abendlichen Mahlzeiten.
Am Haus des Malers hatte sich auf den ersten Blick hin nichts verändert, was wir sehen konnten, als wir an der Vorderseite des Grundstücks stehenblieben.
Harry deutete über die niedrige Mauer hinweg. »Es brennt Licht«, sagte er leise. »Deshalb nehme ich an, daß unser Freund zu Hause ist.«
»Hoffen wir es.«
Stahl drehte mir den Kopf zu. »Moment mal. Bist du denn anderer Meinung?«
»Wetten würde ich darauf nicht.«
»Und warum nicht?«
»Abwarten.«
Wir setzten unseren Plan in die Tat um, und diesmal hielten wir uns weder versteckt, noch waren wir allzu vorsichtig, denn der Maler sollte wissen, was auf ihn zukam.
Vor der Tür blieben wir stehen. Harry hatte schon den rechten Arm gehoben, um nach dem Klopfer zu fassen, als ich sein Handgelenk festhielt. »Nein, laß es.«
»Warum denn? Ich…«
»Die Tür ist offen.« Im letzten Augenblick war es mir aufgefallen. Sie war tatsächlich nicht ins Schloß gefallen. Ich überließ es Harry, die Tür aufzustoßen.
Nach fünf Sekunden Lauschens betraten wir das Haus. Harry zog seine Pistole. Er hielt sie nach oben, die Mündung wies gegen die Decke.
Schon nach den ersten Schritten entdeckten wir die Spuren auf dem Boden: nasse Flecken.
Harry Stahl tauchte den Finger hinein. Seine Hand zuckte rasch wieder zurück.
»Ist es Schleim?«
»Ja.« Er erhob sich. »Und ich habe allmählich den Eindruck, daß wir ihn hier nicht mehr finden.«
»Das denke ich auch. Ich möchte nur sichergehen und mich oben mal umschauen.«
Die Treppe lag nicht weit entfernt. Während ich auf sie zuging, blieb Harry Stahl zurück.
Bevor ich noch die erste Stufe betreten hatte, entdeckte ich auch hier Schleimpfützen.
Für mich ein Beweis, daß sich der Maler in der ersten Etage aufgehalten haben mußte und dann die Treppe heruntergekommen war.
Wahrscheinlich, um sein Haus zu verlassen.
Ich lief die Treppe hoch, einer grauen Dunkelheit entgegen. Trotzdem konnte ich mich umschauen und sah vor allen Dingen das große Fenster, durch dessen Scheibe der Blick weit hinaus aufs Watt fiel. Jetzt allerdings hatte sich die Dämmerung wie eine graue Wand über Land und Wasser gelegt.
Ich schaute auch nicht lange hinaus, sondern nahm meine kleine Lampe zu Hilfe. Ihr Strahl wanderte durch das Atelier. Ich sah Eimer mit Farben, ich sah Bilder und mußte schlucken, als ich all die schrecklichen Motive entdeckte, die der Phantasie des Malers entsprungen waren.
Oder doch nicht?
Waren es vielleicht keine Phantasien, sondern Erinnerungen aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit, einem Pandämonium, in dem er einmal existiert hatte?
Ich wußte es nicht. Nachforschen wollte ich auch nicht, denn die Antwort würde ich hier nicht bekommen. Die mußte mir schon der Maler selbst geben.
Wo konnte er stecken?
Es gab für mich nur eine Lösung. Wenn er das Haus verlassen hatte, dann sicherlich nur deshalb, um einen bestimmten Ort aufzusuchen, an dem er sich wohler fühlte als in seinen eigenen vier Wänden.
Und das konnte nur die Stelle am Watt sein, wo Harry Stahl das Erscheinen des Kraken erlebt hatte.
Harry Stahl hatte die unteren Räume durchsucht und wartete auf mich am Fuß der Treppe. Ich lief wieder hinein in das Licht und schüttelte dabei den Kopf.
Stahl verstand die Geste. »Dann hast du ihn dort oben auch nicht gesehen?«
»Nein.«
»Er ist weg.«
»Sicher, und wir werden dort hingehen, wo wir ihn finden.«
»Ja, im Keitumer Watt. Eine Idylle, in der Regel«, fügte er hinzu und lief mir nach, denn ich hatte das Haus bereits verlassen.
Den offiziellen Weg über die normalen Straßen und Gehwege nahmen wir nicht, sondern liefen durch den Garten, kletterten über eine Mauer, nahmen wieder Abkürzungen und erreichten bald den schmalen Weg, der zum Deich hin und auch
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