Das verborgene Kind
ihm.
»Was ist?«, fragte er scharf.
»Nichts.« Sie wandte den Blick ab. »Ich habe an alles Mögliche gedacht. Daran, wo Im und Jules zu Ostern wohl wohnen werden. Und an Nick.«
Er wirkte erleichtert. »Ja, natürlich. Alles ein wenig besorgniserregend, was?«
»Was ist besorgniserregend?« Hinter ihnen war Milo hereingekommen.
Matt zog eine kleine Grimasse in Lotties Richtung und huschte taktvoll davon.
»Sara hat gerade angerufen«, erklärte sie. »Sie sagt, Nick und Alice hätten Meinungsverschiedenheiten. So, wie sie redet, klang es ziemlich ernst.«
Milos breite Schultern sackten nach vorn, und seine düstere Miene erfüllte Lottie mit Mitgefühl. Sie fragte sich, ob es geschiedenen Menschen besonders schwerfiel, etwas zu anderer Leute Eheproblemen zu sagen. Was mussten Sara und Milo jetzt empfinden, welche Erinnerungen mochten da hochkommen?
»Vielleicht nur eine schwierige Phase«, meinte er zurückhaltend. »So etwas kommt in jeder Ehe vor.«
»Hat einer von ihnen jemand anderen?«
»Das hat Sara nicht gesagt. Sie weiß es nicht. Alice ist über die Frühjahrsferien mit den Kindern zu ihrer Mutter gefahren, und Nick ist nicht eingeladen. Sara erwartet ihn zum Mittagessen. Vermutlich erzählt er ihr dann mehr.«
»Was hat sie noch gesagt?«
Lottie beschloss, ihn von seiner Sorge um Nick abzulenken. »Sie hofft, dass du nicht wieder den Philanthropen gibst und Im und Jules anbietest, bei dir zu wohnen.«
Unwillkürlich lachte er. »Ach, um Gottes willen! Die Frau ist besessen. Oder sie hat das zweite Gesicht.«
»Ich weiß. Nach unserem Gespräch über das Sommer haus habe ich mir das auch gedacht. Ich habe einfach aufgelegt.«
»Gut gemacht. Sollen wir uns einen Drink genehmigen? Das Mittagessen ist fast fertig. Wohin ist
eigentlich Matt verschwunden?«
»Ich glaube, er wollte taktvoll sein. Ich hatte ihm gerade von Nick erzählt.«
»Dann ruf ihn!« Milo verschwand in der Küche. »Wir wollen versuchen, uns keine Gedanken zu
machen, bis wir die ganze Geschichte kennen.«
5. Kapitel
N ach dem Essen setzte Milo sich im Wintergarten auf den kleinen Stuhl aus Weidegeflecht mit gerader Lehne, den er momentan bequemer fand als gepolsterte Sessel oder Sofas. Er liebte diesen sonnendurchfluteten Raum, in dem Geranien auf den Fensterbrettern standen und die Stuhlkissen immer noch mit dem verblassten Chintzstoff bezogen waren, den seine Mutter am liebsten gemocht hatte. Da stand ein niedriger, runder Eichentisch mit zwei Zwischenböden, die meist voller Bücherstapel waren, den man mittels Rollen an seinen Stuhl schieben konnte. Auf einer Bank an der Wand warteten Lotties Strickprojekte in großen Weidenkörben. Sie hatte oft zwei oder drei Kleidungsstücke gleichzeitig in Arbeit, sodass sie immer aus einer Vielzahl von Mustern und Farbtönen wählen konnte.
Die Nachmittagssonne wärmte Milo. Er schloss die Augen, sog mit einem tiefen Seufzer die Luft ein und entspannte sich. Es wunderte ihn, wie verkrampft er war; schließlich war er nicht der grüblerische Typ. Es lag ihm nicht, sich Gedanken über die Zukunft zu machen – seiner Meinung nach eine Vergeudung von Kraft. Doch gerade jetzt fühlte er sich hilflos. Seit dieser verflixten Lungenoperation war er weniger widerstandsfähig. Das Problem war, dass er sich Sorgen um sie alle machte, um alle, die ihm nahestanden.
Zum Beispiel um die liebe, gute Im und um Jules, die nicht wussten, wo sie ab Ostern hinsollten. Er hatte geglaubt, das Sommerhaus könne für sie die Lösung sein, aber Lotties Argument wegen Saras Reaktion und ihrem Wunsch, alles für Nick zu bewahren, war nicht von der Hand zu weisen. Obwohl er sich, um ehrlich zu sein, nicht wirklich vorstellen konnte, dass einer von ihnen in High House wohnen wollte. Außerdem ging es Sara nichts an, für welchen Preis er das Sommerhaus verkaufte – das Geld würde ohnehin in Nicks Erbe einfließen. Irgendwann würde alles an Nick fallen, und der würde High House zweifellos verkaufen. Und was sollte dann aus Lottie werden?
Milo rutschte unbehaglich umher. Was würde Lottie tun, sollte ihm etwas zustoßen? Er wusste, dass sie ohne ihn nicht hierbleiben würde, aber wohin sollte sie gehen?
»Ich bin eine der törichten Jungfrauen«, hatte sie ihm einmal erklärt. »Ich habe in meiner Lampe kein Öl für die kalte, dunkle Zukunft aufgespart.«
Sie hatte das in ganz munterem Ton gesagt und keineswegs, um Mitgefühl zu wecken. Er wusste ganz genau, dass sie in der Wohnung in Blackheath
Weitere Kostenlose Bücher