Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
unverkennbar.
8
Auf dem Schiff nach Tanger wurde Dimity seekrank.
»Hast du nicht gesagt, dein Vater sei Fischer gewesen?«, fragte Élodie an Deck des Dampfschiffs. Der Wind ließ ihr Haar flattern und riss die Worte davon.
»Ich aber nicht«, entgegnete Mitzy und krümmte sich wieder über die Reling, als sich ihr Magen hob. Inzwischen war nichts mehr darin, was herauskommen könnte, und sie wischte sich nur ein wenig Spucke vom Kinn. »Ich war noch nie auf einem Schiff.«
»Können wir dir etwas bringen, Mitzy? Ein Glas Wasser vielleicht?«, fragte Delphine.
»Ingwer wäre am besten, wenn sie welchen haben, oder Minze«, krächzte sie mit brennender Kehle. Ihr war so schwindelig, dass sie es nicht wagte, die Reling loszulassen. Sie blickte sich nach Charles um und entdeckte ihn auf einer Bank auf dem Oberdeck. Er saß da und zeichnete zwei kleine Jungen, die mit ihren Modellflugzeugen spielten. Dimity war einerseits froh, dass er sie nicht beobachtete, während sie erbrechen musste, andererseits aber auch ein wenig eifersüchtig auf die Jungen. Celeste fühlte sich auf See beinahe so unwohl wie sie, doch die Frau aus Marokko lag in der abgedunkelten Kabine. Dimity sah darin eine Art stille, ganz persönliche Würde, die sie gern nachgeahmt hätte. Aber wenn sie nach drinnen ging, fühlte sie sich noch schlech ter und bekam obendrein Kopfschmerzen, weil das Blut hef tig in ihren Schläfen pochte. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, den Blick auf den Horizont zu richten und sich an die leeseitige Reling zu halten. Als Delphine mit einem Zweig Minze aus der Kombüse zurückkam und fragte, ob sie ihn kochen oder was sie sonst damit tun sollte, riss Dimity ihn ihr aus der Hand und kaute die Blätter in der verzweifelten Hoffnung, dass die Übelkeit nachlassen würde. Zumindest übertünchte die Minze den widerlichen Ge schmack in ihrem Mund. Élodie beobachtete sie angewidert und dennoch mit einer Spur Mitgefühl.
»Das wird es dir wert sein, wenn wir erst dort sind, ehrlich«, erklärte sie standhaft.
Nach einer Weile trieb die Erschöpfung Dimity doch nach drinnen, wo sie sich auf eine Sitzbank unter einem Fenster legte und sofort einschlief. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, als Delphine sie wach rüttelte, strahlend vor Aufregung.
»Komm, das musst du sehen«, sagte sie und zog an Dimitys Händen, bis sie zittrig aufstand. Delphine führte sie wieder hinaus aufs Deck, wo Charles, Celeste und Élodie bereits an der Reling standen. Das Licht war gleißend, und Dimity schloss unwillkürlich die Augen. Welch ein Licht, das so stark durch ihre geschlossenen Lider schien, dass sie rot wie Feuer glühten! Als sie die Augen wieder öffnen konnte, war immer noch alles grell, und sie zuckte zusammen. »Schau! Wir sind da. Marokko!«, sagte Delphine und schob sie näher an die Reling heran. Als Dimity endlich etwas sehen konnte, schnappte sie nach Luft.
Die Stadt Tanger ragte ungebrochen um den ganzen bo genförmigen Hafen auf, beinahe zu hell, um sie anzuschauen. Dicht gedrängte weiße Häuser wirkten wie durcheinander gewürfelte Bauklötzchen, und Palmen und zerbrechlich aus sehende Türme erhoben sich aus dem Wirrwarr. Hier und da rankten üppige pinkfarbene Blumen an einer Mauer empor oder schmückten einen Balkon. Über dem glitzernden, türkisblauen Wasser wirkte die Stadt wie von innen erleuch tet. Im Hafen drängten sich Schiffe und Boote aller Arten und Größen, von winzigen Fischerbooten in jeder nur denk baren Farbe bis hin zu riesigen, schwerfälligen Frachtern und Passagierschiffen wie dem Dampfer, auf dem sie selbst fuhren. Auf dem Kai sah sie Männer mit dunkler Haut und harten Gesichtern streiten und feilschen, laden und entladen. Auf dem Pier, der ihrem Schiff am nächsten war, stand ein Mann in einem langen, vom Wind geblähten grünen Gewand. Seine Haut hatte die Farbe von dunklem Rübensirup, und er führte ein hitziges Gespräch mit einem weißen Mann im eleganten Leinenanzug. Dimity konnte all das nur bestaunen. Die Worte der Männer waren ein fremdartiges Geplapper, so unverständlich wie die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete. Genau wie Delphine einmal gesagt hatte, war das Meer hier von einem anderen Blau als in England, genauso wie der Himmel. Die dünnen Türmchen sahen seltsam zerbrechlich aus, zu hoch und zart, um einen Sturm zu überstehen. Die Luft roch nach Meer, aber auch nach Hitze und Staub, nach Gewürzen, deren Namen sie nicht kannte, und Blüten, die sie noch nie
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