Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
Vom Netzwerk:
Celeste wies auf die Aussicht, die sich plötzlich auftat, als der Wagen am Rand der Anhöhe über einem Tal hielt und die Stadt vor ihnen in die Senke hinablief. Zahllose Dächer drängten sich so chaotisch durcheinander, dass Dimitys Blick keinem Straßenverlauf mehr als ein paar Meter weit zu folgen vermochte.
    Sie stiegen aus, um besser sehen zu können. Nebeneinander standen sie da und starrten auf die Stadt hinab. Eine kräftige Brise wehte von Süden heran, die noch heißer zu sein schien als die stille Luft, wie der Atem eines gewaltigen Tieres. Celeste atmete tief ein und lächelte.
    »Der Wind kommt heute von der Wüste her. Spürst du die Hitze, Dimity? Merkt ihr das, Mädchen? Das ist der durstige Wüstenwind. Man kann seine Macht spüren. An einem Tag wie heute kann die Sonne dort draußen einen Menschen töten, so unfehlbar wie ein Messerstich ins Herz. Sie trinkt einem das Leben aus dem Blut. Ich habe es selbst schon gespürt – der Drang, dich hinzulegen, wird beinahe übermächtig, und dann ist es aus mit dir. Du wirst aufgelöst zu ein paar Sandkörnchen mehr in der endlosen Weite der Sahara.«
    »Celeste, du machst ihnen ja Angst«, schalt Charles. Doch Celeste reckte trotzig das Kinn.
    »Nun, vielleicht sollten sie sich auch fürchten. Dies ist kein sanftes Land. Man muss Respekt davor haben.« Dimity richtete sich auf und versuchte, die Schläfrigkeit der langen Reise abzuschütteln, damit sie ja nicht einschlief und zu Sand wurde. Sie spürten sie alle, die Angst und die einschläfernde Brise. Eine Zeit lang sprach niemand, und nur das leise Stöhnen des Windes und die summenden Fliegen stör ten die Stille.
    Dann vernahm Dimity plötzlich den Gesang eines Mannes. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches gehört. Es war ein hoher, dünner Strom von Worten, zart und doch machtvoll, unwiderstehlich und voller Bedeutung, die sie nie verstehen würde. Von der Stadt her waren keine Autos oder Verkehrslärm zu hören, nur Hundegebell, rumpelnde Karren räder, und hin und wieder blökte ein Maultier, oder eine Ziege meckerte. Darunter lag das leise, tiefe Summen vieler Leben auf engem Raum.
    »Warum singt der Mann? Wovon handelt das Lied?«, fragte Dimity. Unwillkürlich hatte sie die Stimme gedämpft, und sie konnte den Blick nicht von dem Labyrinth unter ihnen losreißen.
    »Das ist der muezzin, ein Geistlicher, der die Gläubigen zum Gebet ruft«, erklärte Charles.
    »Wie die Kirchenglocken zu Hause?«
    »Ja.« Charles lachte leise. »Genau so.«
    »Das Lied gefällt mir besser als die Glocken«, sagte sie.
    »Aber du weißt ja gar nicht, was er singt. Was die Worte bedeuten«, wandte Celeste ernst ein.
    »Das ist bei einem Lied nicht so wichtig. Ein Lied besteht nur zur Hälfte aus Worten, die andere Hälfte ist Musik. Und die Musik kann ich verstehen«, sagte sie. Als sie Charles einen Blick zuwarf, merkte sie, dass er sie mit nachdenklicher Miene beobachtete.
    »Gut, Mitzy«, sagte er. »Sehr gut.« Dimity errötete vor Freude.
    »Mädchen, wusstet ihr, dass die Grundmauern von Fès el-Bali auf einem traditionellen Lagerplatz der Berber errichtet wurden?«
    »Ja, Mummy. Das hast du uns schon mal erzählt«, antwortete Élodie. Celeste schlang je einen Arm um ihre beiden Töchter und lächelte.
    »Tja, manche Dinge sind es wert, mehr als einmal erzählt zu werden. In euren Adern fließt Berberblut. Diese Stadt liegt euch im Blut.«
    »Und du, Mitzy? Was sagst du dazu?«, fragte Charles, und Dimity spürte ihrer aller Blicke auf sich gerichtet. Sie warteten auf ihr Urteil oder irgendeine kluge Bemerkung.
    »Gar nichts«, flüsterte sie und sah, wie sich auf Charles’ und Celestes Gesicht Enttäuschung malte. Sie schluckte und überlegte angestrengt, aber ihre Gedanken waren ganz wirr. »Ich kann nicht einmal etwas denken. Diese Stadt ist irgendwie – zu viel«, sagte sie. Charles lächelte und tät schelte ihr die Schulter, ein vager Trost.
    »Schon gut. Du musst völlig erschöpft sein. Kommt. Stei gen wir wieder ein und fahren zum Gästehaus«, sagte er.
    »Werden wir denn nicht bei Ihrer Familie wohnen, Celeste?«, fragte Dimity, ohne zu überlegen. Delphine warf ihr einen vielsagenden Blick zu, und Celeste runzelte leicht die Stirn.
    »Nein«, antwortete sie knapp.
    Sie mussten den Wagen an der Stadtmauer zurücklassen, weil die Straßen zu eng waren, um weiterzufahren. Die letzten paar Hundert Meter bis zu ihrer Unterkunft gingen sie zu Fuß. Die Tür des riad, ihres Gasthauses, war hoch und

Weitere Kostenlose Bücher