Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
zuvor gesehen hatte. Überwältigt drehte sie sich zu Delphine um und blickte in vier Gesichter, die über ihre verblüffte Miene lächelten.
Élodie brach in Lachen aus.
»Du solltest mal dein Gesicht sehen, Mitzy! Ich habe dir doch gesagt, dass es das alles wert sein würde, oder?«, fragte sie. Dimity nickte stumm. Celeste tätschelte sanft ihre Hand, die sich Halt suchend an die Reling klammerte.
»Arme Mitzy! Das muss sehr viel auf einmal für dich sein. Aber atme es ein, tauche hinein, und bald wird es dir hier gefallen. Das ist Marokko, meine Heimat. Hier gibt es Wun der und Schönheit, Grausamkeit und Not. Dies ist die Land schaft meines Herzens«, sagte sie und wandte sich wieder der Küste zu. Die Sonne ließ Celestes schwarzes Haar lebendig funkeln.
»Kommt jetzt«, sagte Charles. »Es wird Zeit, dass wir von Bord gehen und uns etwas zu essen suchen. Wenn sich eure Mägen erst beruhigt haben, werdet ihr furchtbar hungrig sein.«
»Wie findest du es?«, fragte Delphine, nahm Dimitys Hand, als sie sich von der Reling abwandten, und hielt sie ganz fest. Dimity suchte nach Worten, die ausdrücken könnten, was sie empfand. Dass die Hitze, das Licht und die Farben sie zum Bersten erfüllten und wie Jubel über ihre Seele flossen. Und sie noch kaum glauben konnte, dass es einen solchen Ort wirklich gab.
»Ich finde … Ich finde, es ist – wie ein Traum. Das muss eine andere Welt sein«, stammelte sie mit schmerzender Kehle und dröhnendem Kopf.
»Ist es auch«, entgegnete Delphine lächelnd. »Eine ganz andere Welt.«
Sie blieben nur eine Nacht in Tanger. Dimity schlief kaum, sie schnupperte die fremdartige Luft, die unbekannte Gerüche herantrug, und ihr drehte sich der Kopf. Alles war schwindelerregend, alles so fremd und unbegreiflich wie in einem Fantasiereich. Immer wieder wachte sie in dieser ersten Nacht auf mit dem Gefühl, dass das Land unter ihr hohl und substanzlos war – als könnte die Oberfläche jeden Augenblick nachgeben und sie ins Bodenlose stürzen lassen. Nach einer Weile wurde ihr klar, warum. Das Brausen des Meeres fehlte, dessen Echo sie in Blacknowle stets in den Füßen spürte wie ein riesiges schlagendes Herz, immerzu. Ohne diesen Herzschlag fühlte sie sich so luftig wie ein Geist, wie ein Drachen mit zerschnittener Schnur. In einem Traum war es ihr eigenes bleiernes Herz, das stehen geblieben war, und beim Aufwachen fühlte sie sich wie frisch in eine neue Haut hineingeboren.
Für die lange Fahrt nach Fes mieteten sie einen Wagen samt Chauffeur. Weil hier und da Sand auf die Fahrbahn geweht worden war, kamen sie nur langsam voran. Der Wagen schwankte sanft vom kräftigen Wind, und Dimity starrte aus dem Fenster, während die anderen schliefen. Noch immer war sie überwältigt davon, wie riesig und weit alles war, wie wild und anders. Der Himmel war makellos blau, hart und unerbittlich. Unter der starken Sonne flimmerte das Land vor Hitze – brauner Staub, Felsen und halb verdorrtes Gestrüpp, so weit das Auge reichte. Weit hinter ihnen auf der Straße glaubte Dimity die Staubwolke eines anderen Fahrzeugs zu erkennen, aber sicher hätte sie es nicht sagen können. Es war schon spät, und selbst die kleinsten Felsbrocken und Büsche warfen lange Schatten, als die Stadt endlich vor ihnen erschien, flach und weit über die Ebene ausgebreitet. Zuerst glaubte Dimity, der Ort sei nicht größer als Wareham, doch je näher sie kamen, desto weiter schien er sich auszudehnen. Die anderen wachten auf, und Celeste zeigte auf die dicht gedrängten höheren Gebäude, die Dimity zunächst für die gesamte Stadt gehalten hatte, und erklärte ihr, dass das nur die Kolonialbauten waren, das Viertel, in dem die Franzosen und andere Europäer lebten.
»Weil wir uns für etwas Besonderes halten«, erklärte Delphine leicht spöttisch.
»Weil wir umsichtig genug sind, um einen respektvollen Abstand zu den Arabern und Berbern einzuhalten«, korrigierte Charles sie.
»Jenseits dieser Gebäude liegt Fès el-Jedid. Das neue Fes.« Celeste deutete auf die Stadt, wo auf der Schattenseite der Straßen schon die ersten Lampen in der Dämmerung leuchteten.
»Ist es neu? Ich dachte, die Stadt sei so alt«, sagte Dimity.
»Neu ist etwas nur im Vergleich zum Alten. Die neue Stadt ist immer noch viele Hundert Jahre alt, Mitzy. Aber die alte Stadt – Fès el-Bali – ist die älteste Stadt in Marokko, die nicht von den Römern oder anderen Völkern der Antike erbaut wurde. Da ist sie, da. Schau!«
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