Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
als ihre Blicke sich kurz trafen, wandte Dimity betont den Kopf ab.
»Freunde von dir?«, fragte Charles.
»Nicht direkt, nein«, antwortete Dimity. Charles ließ die Jungen das laute Hupen des Wagens hören und warf ihr dann einen fröhlichen Blick zu, und Dimity lachte. Sie konnte nicht anders, das Lachen sprudelte in ihr empor, als kochte es über.
Als sie die Landstraße erreichten, bog Charles nach links in Richtung Rochester ab, und sie rasten davon. Mit jedem Ruck der Gangschaltung erhöhte sich ihre Geschwindigkeit, bis Dimity glaubte, dass sie unmöglich noch schneller werden konnten. Die Straßenränder waren verschwommene Streifen satten Grüns, und die Landschaft schien sich zu verflüssigen und an ihnen vorbeizuströmen. Nur der Himmel und das ferne, blasse Meer blieben unverändert, und Dimity hielt den Blick darauf gerichtet, während sie die Straße entlangdröhnten, schlingernd einen trägen Bus und andere, langsamere Wagen überholten. Die Luft, die durch das Fenster hereinzog, war warm, aber immer noch kühlend für einen so heißen Tag, und sie hob die Hände, drehte ihr Haar zu einem Knoten zusammen und hielt es fest, damit ihr schweißnasser Nacken trocknen konnte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Charles sie scharf musterte und seine Aufmerksamkeit nun zwischen ihr und der Straße teilte.
»Mitzy, nicht bewegen«, sagte er, doch die Worte gingen im Lärm beinahe unter.
»Wie bitte?«, schrie sie zurück.
»Schon gut. Hier können wir ohnehin nirgends anhalten. Würdest du das später noch einmal für mich tun? Dein Haar so hochhalten? Ganz genau so? Kannst du dich erinnern, wie du es gemacht hast?«
»Ja, natürlich.«
»Braves Mädchen.« Dimity musste plötzlich an Valentina denken, und sie biss sich auf die Lippe und überlegte, wie sie sagen sollte, was sie wohl sagen musste. Die Nachricht über die Rückkehr der Aubreys hatte sich mit dem Strom schmuddeliger Besucher bis zu ihr verbreitet, wie das Treibholz und der Abfall auf dem Wasser im Kanal. Dimity hatte sie nicht geheim halten können.
»Meine Mutter wird sagen …«, begann sie, doch Charles unterbrach sie, indem er lässig abwinkte.
»Keine Sorge. Du wirst Geld bekommen, damit Valentina Hatcher uns wohlgesinnt ist«, erklärte er, und Dimity entspannte sich ein wenig. Sie war erleichtert, nicht darum bitten zu müssen.
Als sie Dorchester erreichten, drehten sie eine kurze Runde durch den Ort und fuhren dann denselben Weg zurück, genauso schnell wie zuvor. Dimity reckte die Finger in den Fahrtwind, spürte ihn, spielte damit, ließ die Luft ihre Hand weit zurückbiegen und hielt sie dann flach ausgestreckt. Schließlich drehte sie die Hand um, sodass der Wind ihre Finger zu einer Faust krümmte.
»Jetzt verstehe ich es«, sagte sie, beinahe zu sich selbst.
»Was verstehst du?«, fragte Charles und beugte sich zu ihr herüber, um sie besser zu hören.
»Wie Vögel fliegen. Und warum sie es so lieben«, sagte sie, ohne den Blick von ihrer Hand abzuwenden, die noch immer den starken Luftstrom teilte. Sie spürte, dass der Künstler sie beobachtete, und sie erlaubte es ihm, ohne seinen Blick zu stören, indem sie ihn erwiderte. Sie starrte ihre flatternde Hand an, die Fingerspitzen, die im Sonnenschein leuchteten. Sie sog den feurigen Geruch des Wagens ein, spürte das Rumpeln des vorüberjagenden Landes und hatte das Gefühl, einen völlig neuen Ort zu entdecken, eine Welt der Weite und des Staunens, die sie noch gar nicht kannte. Eine Welt, in der sie fliegen könnte.
Charles schwebte ein Gemälde vor, das die Seele des volkstümlichen England einfangen sollte. Das erzählte er ihnen eines Tages beim Mittagessen, während Dimity sich Käse und Essiggurken schmecken ließ, auf dicke Scheiben eines zähen Brotes gehäuft, das Delphine selbst gebacken hatte. Es war etwas schwer zu kauen, doch sie hatte frischen Rosmarin in den Teig gegeben, wie Dimity es ihr geraten hatte. Deshalb schmeckte es so gut, wie es duftete.
»In Frankreich habe ich eine Zigeunerhochzeit gemalt. Das war eines meiner besten Bilder«, sagte der Künstler weder stolz noch bescheiden. »Irgendwie konnte man die Erdigkeit darin spüren, die urtümliche Verbindung zwischen diesen Leuten und dem Land, auf dem sie lebten. Ihr Blick – ich meine ihren inneren Blick – galt ganz dem Hier und Jetzt. Sie konnten ihre Wurzeln spüren, die tief in den Boden und über viele Jahre zurückreichten, obwohl einige von ihnen keine Ahnung hatten, wer ihre Väter
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