Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
antwortete Dimity.
»Aber du hast doch gesagt, dass du ihm erlaubt hast, dich zu küssen?«
»Ja, das stimmt. Nicht oft, nur ab und zu mal. Wenn er nett zu mir war. Er ist wirklich nur ein Freund, aber du weißt doch, wie Jungen sind.«
»Glaubst du, du wirst ihn heiraten?«
Dimity lachte leichthin und versuchte eine Zeit lang so zu tun, als hätte sie reichlich Angebote, reichlich Alternativen. Viel Zeit, abzuwarten. »Das bezweifle ich. Er ist ziemlich mager, und seine Mutter hasst mich, das ist mal sicher. Er würde sich wahrscheinlich nicht mal trauen, seinem Vater zu erzählen, dass er mich manchmal trifft. Aber vielleicht sage ich ihm das eines Tages selbst – schließlich ist er oft genug bei meiner Mutter.« Sobald die Worte heraus waren, bereute Dimity sie schon.
»Warum denn?«
»Ach, du weißt schon. Um Heilmittel und so was zu kaufen. Sich die Zukunft vorhersagen zu lassen«, erfand sie hastig einen Grund, und bei der Lüge stieg ihr die Hitze ins Gesicht.
»Ich weiß schon, wen ich heiraten werde«, sagte Delphine und legte sich auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Tyrone Power.«
»Ist das ein Junge an deiner Schule?«, fragte Dimity, und Delphine lachte.
»Soll das ein Witz sein? An meiner Schule gibt es keine Jungen. Tyrone Power! Hast du denn Signale nach London nicht gesehen? Oh, er ist einfach göttlich … Der göttlichste Mann, der je gelebt hat.«
»Dann ist er also ein Filmstar? Wie willst du ihn denn treffen?«
»Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Aber ich werde ihn treffen – und ich werde ihn heiraten oder als einsame Jungfer sterben«, verkündete Delphine in ruhiger Gewissheit. Sie schwiegen, dachten darüber nach und lauschten dem leisen Kratzen von Élodies Stöckchen im Sand, dem unablässigen Murmeln des rastlosen Wassers. »Mitzy? Wie ist das? Einen Jungen zu küssen?«, fragte Delphine schließlich. Dimity überlegte eine Zeit lang.
»Ich weiß auch nicht. Anfangs fand ich es ekelhaft, wie eine nasse Hundenase im Gesicht. Aber nach einer Weile geht es eigentlich. Ich meine, es ist ganz schön.«
»Wie schön? So schön, wie wenn jemand dir das Haar bürstet?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Dimity ein wenig ratlos. »Mir hat noch nie jemand anders das Haar gebürstet.«
»Ich kann mit fünf Strängen flechten, nicht bloß mit dreien«, sagte Élodie, die gerade an ihnen vorbeikam.
»Das stimmt. Élodie ist sehr geschickt im Frisieren«, sagte Delphine.
»Ich flechte deine nachher«, sagte Élodie. Dann hielt sie inne, offenbar ebenso überrascht wie Dimity ob dieser Geste plötzlicher Großzügigkeit. »Wenn du willst«, fügte sie hinzu und zuckte mit den Schultern.
»Das wäre schön. Danke«, sagte Dimity. Élodie blickte zu ihr auf und lächelte. Ihre kleinen weißen Zähne blitzten auf, so hübsch und so selten zu sehen wie Waldanemonen.
Noch in derselben Woche fuhr Charles Dimity in dem Automobil spazieren, wie er es versprochen hatte. Dimity hielt sich mit einer Hand am Türgriff und mit der anderen am Sitz fest, als der Austin aus der Einfahrt preschte und Littlecombe hinter sich ließ. Das Wageninnere duftete schwer nach Öl und warmem Leder, ein so dichter, berauschender Geruch, dass sie ihn beinahe auf der Zunge schmecken konnte. Die Wärme des Sitzes drang durch ihren Rock und erhitzte die Rückseiten ihrer Oberschenkel, bis sich ein leichter Schweißfilm auf der Haut bildete.
»Und du bist wirklich noch nie in einem Auto gefah ren?«, fragte Charles, kurbelte sein Seitenfenster herunter und bedeutete ihr, dasselbe auf ihrer Seite zu tun.
»Nur mit dem Bus, ein- oder zweimal, und manchmal auf einem Ackerwagen hinter dem Traktor, zur Kartoffelernte oder um Maiskolben zu sammeln«, antwortete sie, plötzlich beklommen. Charles lachte.
»Einem Ackerwagen? Ich finde nicht, dass das zählt. Also dann, gut festhalten. Wir fahren die Wareham Road entlang, damit ich mal richtig Gas geben kann.«
Dimity hörte ihn kaum, so laut brauste die Luft durch die offenen Fenster, und obendrein dröhnte der Motor. Als sie leicht schlingernd zwischen den aufgereihten Häuschen von Blacknowle entlangjagten, sah sie Wilf und ein paar Jungen aus dem Dorf vor dem Laden herumlungern. Sie reckte hochmütig das Kinn, als der Wagen an ihnen vorbei sauste, und freute sich darüber, wie sie mit offenen Mündern den in der Sonne glitzernden blauen Lack bewunderten und der Wind ihr das Haar zerzauste. Wilf hob verstohlen die Finger einer Hand, doch
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