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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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waren, ge schweige denn ihre Großväter. Sie schauten nie zu weit voraus, nie zu weit in die Ferne. Das ist der Schlüssel zum Glück. Wahrhaftig zu begreifen, wo man ist und was man hat, gerade jetzt, und dankbar dafür zu sein.«
    Er hielt inne und biss in sein Brot. Celeste atmete tief durch und lächelte schwach, als er aufblickte. Dimity hatte den Eindruck, dass Celeste diese kleine Ansprache schon einmal gehört hatte. Als sie Charles’ Töchter ansah, starrten beide mit glasigen Augen ins Leere. Entweder hatten sie all das auch schon gehört, oder es interessierte sie kein bisschen. Da wurde ihr klar, dass diese große Rede für sie selbst gedacht war. »Nehmen wir beispielsweise Dimity«, sagte er, und beim Klang ihres Namens fuhr sie zusammen. »Sie ist hier geboren und aufgewachsen. Das hier ist ihr Land, das sind ihre Leute, und ich bin sicher, dass sie nicht einmal auf den Gedanken käme, von hier fortzugehen. Oder, Mitzy?« Sein Blick, fest und fesselnd, war auf sie gerichtet. Dimity setzte zu einem Nicken an, begriff dann, dass er ein Nein erwartete, und schüt telte stattdessen den Kopf. Charles tippte zur Bestätigung mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, und Dimity lächelte. Doch Celeste musterte sie mit prüfendem Blick.
    »Es ist so leicht, die Dinge so zu sehen, wie sie dir erscheinen, und danach Vermutungen anzustellen und sich ein Bild zu machen. Wer kann schon sagen, ob es richtig ist? Wer kann sagen, ob dieses Glück der Zigeuner nicht nur in deinem Kopf existierte und in deiner Hand, als du sie gemalt hast?«, fragte sie Charles mit herausfordernd gerecktem Kinn.
    »Es war echt. Ich habe nur gemalt, was da war, direkt vor mir«, beharrte Charles, doch Celeste unterbrach ihn.
    »Was du gesehen hast. Was du zu sehen glaubtest . Das ist immer eine Frage der …« Sie wedelte mit der Hand und suchte offenbar nach dem richtigen Wort. »Wahrnehmung.« Charles und Celeste sahen sich in die Augen, und zwischen ihnen ging etwas hin und her, das Dimity nicht entziffern konnte. An Charles’ Kiefergelenk zuckte ein Muskel, und Celestes Gesicht hatte einen angespannten, zornigen Ausdruck.
    »Fang nicht wieder damit an«, sagte er mit steinerner Ruhe in der Stimme. »Ich habe dir doch gesagt, dass da nichts ist. Du bildest dir das nur ein.« Das Schweigen am Tisch wurde unangenehm, und als Celeste wieder sprach, klang ihre Stimme viel härter als ihre Worte.
    »Ich wollte mich lediglich am Gespräch beteiligen, mon cher. Weshalb fragst du Dimity nicht, statt ihr zu sagen, wie sie das empfindet? Also, Mitzy? Möchtest du für immer hier leben? Oder würdest du lieber irgendwann einmal ausprobieren, wie es ist, anderswo zu wohnen? Hast du starke Wurzeln, die dich mit diesem Ort verbinden?«
    Dimity dachte wieder an den langen Winter – an Nebelbänke, die wie herabgesunkene Wolken vom Meer hereintrieben, so niedrig, dass die ganze Welt auf die missmutige Erde vor ihren Füßen zusammenschrumpfte. Sie dachte an die dünne Eisschicht auf Bartons Mistgrube – sie war versehentlich darauf getreten und durchgebrochen, und die widerliche schwarze Gülle war auf ihre Stiefel gespritzt. Fischer, die nicht rausfahren konnten, ernteten stattdessen Schilf für die Reetdächer. Sie arbeiteten in Reihen nebeneinander, und ihre Arme schwangen hin und her, während das Zischeln und Knirschen ihrer Sensen laut durch die tiefe Stille hallte. Tage, an denen die ganze Welt im Todesschlaf zu liegen schien und Dimity auf ihren Wegen von The Watch und zurück ihren Segeltuchmantel fest um sich zog. Der Saum ihrer Kattunröcke war ständig durchweicht, von der Krempe ihres alten Filzhutes tropfte das Wasser, und sie hörte das Rauschen der Flügel von Schwänen, die über sie hinwegflogen, unsichtbar im dichten Nebel. Wie sehr sie sich danach sehnte, mit ihnen davonzufliegen, sich aus der erdrückenden Kälte und der Dumpfheit freizukämpfen, mit der jeder Tag gleich begann und gleich zu Ende ging. O ja, sie hatte Wurzeln, die sie hier festhielten. Wie die kümmerlichen Kiefern an der Küstenstraße, deren Stämme und sämtliche Äste sich vom Meer und seinen grausamen Winden fortbogen. Sie konnte nicht hoffen, sich diesen Wurzeln je zu entreißen, ebenso wenig wie die Bäume, so weit sie sich auch zur Seite beugen, von diesen Wurzeln fortstreben mochten. Sie hatte nie daran gedacht, es auch nur zu versuchen, bis Charles Aubrey und seine Familie gekommen waren und ihr eine Vorstellung da von vermittelt hatten, wie die

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