Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
launisch. Mitzy! Komm, komm herein.« Sie breitete die Arme aus, und Mitzy landete in einer kurzen, überraschenden Umarmung. Delphine stand mit einem breiten Lächeln vom Tisch auf. »Wie geht es dir? Du bist so groß geworden! Und noch schöner als vergangenes Jahr«, sagte Celeste und hielt sie auf Armeslänge von sich ab. Wie war das möglich? Dimity dachte an den langen, bitteren Winter, die Frostbeulen an ihren Zehen, aufgesprungene Wangen vom kalten Wind, und wie lange sie und Valentina keine anständige Mahlzeit bekommen hatten. Delphine stand ungeduldig neben ihrer Mutter, und sobald Celeste Dimity losließ, trat sie vor und umarmte Dimity ebenfalls. Ein Gefühl von Glück durchflutete Dimity und dazu so etwas wie Erleichterung, so machtvoll, dass sie einen Augenblick lang glaubte, sie werde in Tränen ausbrechen. Hastig rieb sie sich die Augen, und als Delphine sah, wie gerührt sie war, lachte sie vor Freude.
»Es ist so schön, dich wiederzusehen! Ich habe dir so viel zu erzählen, und du mir sicher auch …«, sagte sie.
»Hast du schon gegessen, Mitzy?«, erkundigte sich Celeste.
»Ja, danke sehr.«
»Aber ich wette, du könntest noch mehr essen, oder?«, fragte Delphine, nahm Dimitys Arm und hakte sich bei ihr unter. Dimity trat von einem Fuß auf den anderen und wollte lieber nicht antworten, obwohl es in der Küche himmlisch roch, wie immer. Celeste lächelte.
»Keine höfliche Bescheidenheit, Mitzy. Sag nur, ob du etwas möchtest.«
»Ja, bitte. Sehr gern.« Celeste schnitt zwei dicke Scheiben von einem gelben Kuchen ab und wickelte sie in eine Serviette.
»Ich möchte auch etwas – jetzt ist mir endlich nicht mehr übel von der Fahrt. Daddy fährt das neue Automobil so schnell, dass wir auf der Rückbank hin und her kullern wie Murmeln! Einmal sind wir sogar in eine Hecke gefahren – da kam uns in einer engen Kurve ein Traktor entgegen. Du hättest hören müssen, wie Élodie geschrien hat!«
»Unter dem Metall ganz vorne hat Wiesenkerbel gesteckt«, sagte Dimity, und Celeste lächelte.
»Charles hat dir also sein Baby vorgestellt, ehe du auch nur hereinkommen und uns Hallo sagen konntest? Das über rascht mich nicht. Ich fürchte, er liebt dieses Ding mehr als uns.«
»Nein, das stimmt nicht. Nicht mehr als uns«, sagte Delphine und stupste Dimity mit der Schulter an, denn ihr Gesicht verriet offenbar, dass sie diese Worte ernst nahm.
»Nein. Er ist wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Der erste Überschwang wird sich bald legen«, erklärte Celeste.
»Komm, gehen wir runter an den Strand! Ich habe mich schon so danach gesehnt, endlich wieder einmal barfuß zu laufen. In der Schule musste ich ständig daran denken. Sie zwingen uns, diese grässlichen, kratzigen Socken zu tragen, selbst wenn die Sonne scheint.«
»Fragt Élodie, ob sie mitkommt«, rief Celeste ihnen nach.
»Ach, na gut.« Delphine seufzte und lehnte sich ans Treppengeländer, um die Treppe hinaufzurufen: »Eee-lo-diiiie!«
Als sie das Haus verließen und den Garten durchquer ten, blickte Dimity sich nach Charles um. Der Wagen glänzte in der Einfahrt, doch sein Besitzer war nirgends zu sehen. Widerstrebend wandte sie den Blick davon ab.
Diesen und den nächsten Nachmittag verbrachten sie damit, einander alles zu erzählen, was sie in den zurückliegenden zehn Monaten erlebt und getan hatten, seit Delphine und ihre Familie aus Dorset abgereist waren. Sie streiften durch die Wiesen und die Hecken entlang, sammelten Kräuter und beobachteten die jungen, kaum flüggen Vögel. Élodie besänftigten sie mit langen Ketten aus Gänseblümchen und Mohnblumenkränzen für ihren Kopf. Sie saßen am Strand, an der Flutlinie, wo ein Rand aus Kalkschulp und trockenen, hauchzarten Fischeiern den Sand vom Kies trennte, und sahen zu, wie Élodie Räder schlug. Sie bewerteten jedes Rad mit Punkten von eins bis zehn, bis Élodie atemlos und mit rotem Kopf müde und schwindelig genug war, um sich irgendeiner stillen Beschäftigung zu widmen – etwas in den Sand zeichnen, Strandglas suchen oder die Blasen an einem Strang Blasentang zerdrücken. Delphine interessierte sich vor allem für Wilf Coulson, obwohl Dimity bei diesem Thema absichtlich vage blieb.
»Also, ist er dein fester Freund?«, fragte Delphine mit gedämpfter Stimme. Sie blickte kurz zu ihrer kleinen Schwester auf, die sich als Silhouette vor dem glitzernden Meer abhob und mit einem Stöckchen immer größere Kreise in den Sand zog.
»Nein! Ist er nicht!«,
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