Das verborgene Netz
Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, den Zerfall der Familie, das Scheitern eines Lebensplans, natürlich den Tod Germains ein paar Jahre danach.
Schweigend aßen sie, mit ihrem Vater zu sprechen wurde immer schwieriger. Manches konnte in Gegenwart des neuen Germain nicht angesprochen werden – dass es einen anderen Germain gegeben hatte, die Traurigkeit ohne Blut seiner Mutter –, anderes ging ihren Vater nichts an – Ben,
das Problem
, Wertheim.
Zaghaft wies er mit der Kuchengabel auf einen Notizzettel neben der Vase. »Du fliegst nach Berlin?«
Sie runzelte die Stirn, zog den Zettel heran. Stichwörter, Flugdaten für den morgigen Montag, von Karlsruhe/Baden-Baden nach Berlin-Tegel. Vage Erinnerungen formten sich in ihrem Gehirn. Ein Anruf von Rolf Bermann an einem
Morgen – möglicherweise dem heutigen –, eine Bitte der Berliner Kollegen um Ermittlungshilfe. Eine Spur, die nach Freiburg führte.
»Ja, sieht so aus.«
»Dienstlich?«
Sie nickte.
»Mit Pistole?«, fragte Germain.
»Man darf keine Waffen in Flugzeuge mitnehmen«, sagte ihr Vater.
»Louise schon.«
»Nein, auch Louise darf das sicher nicht.«
»Die Polizei darf alles.«
»Nicht alles, Germain.«
»Alles.«
»Louise, wenn du ihm bitte … «
»Musst du in Berlin einen Killer abholen?«
»Germain … « Ihr Vater brach ab. Resignation lag in seinen Augen, und für einen kurzen Moment tat er ihr beinahe leid.
Dann musste sie lächeln. Er hatte Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie zur Polizei gegangen war. Ein Kind tot, das andere bei der Kripo – gab es für einen wie ihn Schlimmeres?
Dass auch das neue Kind von der Polizei fasziniert war.
Weil Germain genau informiert werden wollte, erzählte sie, sichtlich zum Verdruss ihres Vaters.
Nein, sie musste keinen Killer abholen, sondern mit einem Mann sprechen, der in einem Hotel in Berlin von einem anderen Mann verprügelt und mit einer Pistole bedroht worden war. Weil sich dieser andere Mann mit einem falschen Namen bei dem Hotel angemeldet hatte und von
niemandem gesehen worden war, wussten ihre Berliner Kollegen nicht weiter und …
»Und weil die nicht weiterwissen, rufen die Louise an«, sagte Germain und zog die Augenbrauen triumphierend hoch.
»Das wird so nicht ganz korrekt sein«, sagte ihr Vater.
»Ist es.«
»Die haben dann die anderen Gäste überprüft«, sagte Louise, »und in dem Zimmer, vor dem der eine Mann den anderen angegriffen hat, hat eine Frau aus Freiburg gewohnt. Aber die hat keine Ahnung, was los war. Und weil das Ganze irgendwie sehr merkwürdig ist, und weil meine Kollegen nicht weiterwissen, kommen sie auf komische Ideen … «
»Und
deswegen
rufen die Louise an«, murmelte ihr Vater.
Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Louise zu lachen, und ihre beiden kleinen Männer stimmten ein.
Man entspannte sich. Germain erzählte von der Schule, ihr Vater von Bekannten in Kehl, deren Namen und Geschichten sie sofort wieder vergaß. Als Germain auf der Toilette war, sagte ihr Vater leise: »Und … das Problem?«
Da war es mit der Entspannung vorbei.
»Das Problem?«
»Du weißt schon, das Problem mit dem Alko … «
Abwehrend spreizte sie die Finger auf dem Tisch. »Es gibt kein Problem.«
»Das ist schön zu hören.«
»Es gab eines, und jetzt gibt es keines mehr, okay?«
»Ja. Das ist … schön.«
»Und Karin?«
»Oh, sie hat eine sehr unangenehme Erkältung.«
»Das ist Quatsch, Papa.«
Ihr Vater starrte sie überrascht an, dann senkte er den Kopf und begann, mit der Gabel Kuchenkrümel vom Rand des Tellers zur Mitte zu schieben, bis dort ein kleiner brauner Haufen entstanden war. Als nichts mehr herumzuschieben war, sah er auf. »Möchtest du noch einen Café au lait?«
»Betrügt sie dich?«
»Aber
nein
, Louise.« Er erhob sich rasch, streckte die Hand aus.
Sie ließ ihn einen Moment so stehen, dann reichte sie ihm ihre Tasse.
»Was macht denn dein neuer Freund?«
»Habe ich einen neuen Freund?«
»Ich dachte … Hattest du nicht kürzlich einen Ben Liebermann erwähnt?«
»Der ist alt, den gibt es seit fast einem Jahr.«
»Schon s
o
lange?« Ihr Vater rang sich ein Lächeln ab, das genauso gut liebevoll wie verzweifelt sein konnte. »Dann wird deine Mutter ihn bestimmt schon kennen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in Richtung Küche.
Ja, Ben und sie waren Anfang August für eine Woche in der Provence gewesen. Wundervolle Tage mit Ben, knarzende Tage mit ihrer Mutter, die mit
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